Die Chroniken des Südviertels. Rimantas Kmita

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Die Chroniken des Südviertels - Rimantas Kmita

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unterm Bett hervorzuziehen, flogen sie auch schon durchs Zimmer. So musste der Opa den Pfaffen kommen und seine Hütte segnen lassen, für die Kirche opfern, aber der Poltergeist trieb, wenn auch seltener, weiter sein Unwesen.

      »Und ich habe gehört, dass die Psi-Heinis Verbrecher jagen. Sie sagen den Bullen alles vor, und die müssen dann nur noch hinfahren und die Schurken einsacken.«

      »Wenn die Zöllner die herbrächten, dann gute Nacht!«

      Aber diesmal waren keine Medien an der Grenze, und wir hatten wie waschechte Kaschpirowskis alles genau vorausgesehen. Der Zöllner stänkerte noch n wenig rum und machte dann nen Abgang – er konnte ja nicht wegen jedem Brotsack n Affentheater starten. Wir hatten unsere Säcke irgendwelchen Leuten überlassen. Waren einfach in ihr Abteil marschiert und hatten gesagt, hm, in unserem Abteil ist irgendwie nicht genug Platz, dürfen wir unser Gepäck bei euch lassen? (Ja, Gepäck, genauso hatten wir es ihnen gesagt – Minde war dieses Wort wieder eingefallen.) Bei ihnen war noch Platz. Also gut, sagten sie, lasst es hier. Und das taten wir. Komme, was wolle. Soll der Zöllner es doch mitnehmen, wenn er will, wir haben nix damit zu tun. Ich malte mir aus, wie jene Leute ihn auf die Palme brachten: Sitzen auf Säcken voller Brot und sagen dem Zöllner ins Gesicht: Das sind nicht unsere, die hat jemand hiergelassen.

      Und selbst wenn er die Säcke mitnahm – kein so großer Verlust, nur n Rumgerenne, bis man das Brot wieder zusammengekauft hatte. Seit kurzem gab es so ne Verordnung, dass man nur zwei Weißbrote kaufen durfte. Schön viel Arbeit, bis man genug zusammenhatte. Überall ellenlange Schlangen. Schlange stehen aber heißt leben lernen. Ich hatte n Riesenglück: Ich bekam mehr als zwei, die Verkäuferin war nämlich dabei, in Hysterie auszubrechen, und die Verordnungen waren ihr schnurzegal. Stellt euch das vor: Da stehste den ganzen Tag, alle nervös, alle texten dich zu, schreien dich an. Zum Beispiel die Alte mit Tränen in den Augen: drei Kinder zu Hause, die alle vor Hunger sterben … Also gut, sie gibt ihr vier kleine Laibe, aber die hinter ihr stehende Rentnerin krakeelt, warum sie jener vier gegeben habe, sie soll doch ihre Bälger herbringen, oder sind die etwa schon so schwach, dass sie nicht mehr ausm Bett aufstehen? Hinter der Rentnerin schon wieder eine mit vielen Kindern, hält der Verkäuferin irgendwelche Bescheinigungen unter die Nase, bekommt auch vier. Die schmeißt sie unverschämt dem neben ihr stehenden Kerl in seinen Kartoffel sack. Noch n paar und er ist voll. So ist das also, den Spekulanten verkauft ihr welches und den armen Leuten gebt ihr nichts!, proben n paar Alte sofort den Aufstand. Dann fällt auch noch so n Muskelprotz über die Verkäuferin her: Welche Verordnung denn, verfickt noch mal, was haste denn, machste etwa mit der Ware unterm Tisch hervor zu wenig Kohle, dass du knickerst, du Opfer, soll ich dich vielleicht nach der Arbeit nach Hause begleiten, warst wohl schon lange nicht mehr beim Zahnarzt – fünf Laibe, aber dalli!

      Alle standen wie angewurzelt da, keine Alte ließ auch nur nen Pieps von sich hören. Vor mir stand n ordentlich gekleideter älterer Herr, vielleicht n Lehrer oder so was. Und der fragte, als er an die Reihe kam, die Verkäuferin: Warum lächeln sie nicht? Ihre Miene hättet ihr sehen müssen! Das ist ne ganz neue Mode, dass die Verkäuferinnen lächeln müssen, ausm Ausland mitgebracht. Da kommt irgendn Ausländer daher und lamentiert, unsere Verkäuferinnen sind mürrisch, hochnäsig und so weiter. Dann stell dich doch hier hinter den Ladentisch und lächle, du Esel! Wir sind freie Menschen hier – wer will, der lächelt, wer nicht will, nicht, kapiert?!

      Und als ich an der Reihe war, sagte ich ganz ruhig: Für mich vier. Die Verkäuferin blieb erst an Ort und Stelle stehen. Wir sind zu zweit, sagte ich und zeigte dabei mitm Kopf irgendwohin, wo niemand war. Sie war schon so fix und fertig, dass sie keine Fragen mehr stellte. Offenbar bekam sie gar nix mehr mit von dem, was rundherum passierte.

      Wie ihr seht, brauchte man jetzt Zeit, um alles zu besorgen. Was solls – wir trieben uns eh den ganzen Tag in der Gegend rum. Hätten wir etwa zur Schule gehen sollen? Vielleicht Chemie büffeln? Die Chemie war für mich n Buch mit sieben Siegeln, n dunkler, auswegloser Wald. Oder Informatik? Im Informatikunterricht saßen wir doch nur da und schrieben ins Heft: IF … THEN … Nen Computer, ja, den hatte ich bei Remyga gesehen, sein Bruder hatte n paar Spiele, also ging ich manchmal zu ihm, aber auch dort – bis der PC hochgefahren war und die starteten, musste ich schon wieder nach Hause. Und im Kunstunterricht – warum sollte ich irgendwas aufs Papier kleckern, wir machten uns sowieso immer ausm Staub. Oder Litauisch? Was gibts da zu lernen – du schlägst das Lehrbuch auf, wenn die Lehrerin es gerade nicht sieht, schreibst n paar Sätze ab und damit hat sichs. Wozu sollte ich überhaupt in der Penne rumsitzen? Was ist der Witz dabei? Schaut mal genau hin, wer macht die meiste Kohle? Habt ihr es gesehen? Und? Es fragt sich, ob die überhaupt schreiben können, nö? Dafür polieren sie mit ihren Schlagringen allen die Fresse. Ihre Handschrift ist klar und deutlich. Und ist ne Type schwer von Begriff, dann setzt die Gang alle Kommas und Ausrufezeichen am rechten Ort. Und falls der arme Kerl doch wider Erwarten im Krankenhaus aufwacht, ist sein Leben viel einfacher. Oder habt ihr vielleicht gedacht, sie würden irgendwelche Papiere unterschreiben? Heutzutage ist alles ganz einfach, und die einzig wichtigen Papiere sind die mit den Wasserzeichen. Was soll da die Schule? Du büffelst und büffelst, und was dann? Was fängste mit all dem Gelernten an? Doch nicht etwa Pauker werden? Ihr lacht, ja, ja. Also, wenn ihr nicht Lehrer werden wollt, wozu dann pauken?

      Denkt ja nicht, ich würde keine Zeitungen lesen. Wisst ihr denn, wie viel die Lehrer verdienen. Zwei gelungene Fahrten über die Grenze nach Lettland – da habt ihr ihren Monatslohn. Diese Mathematik habe ich noch nicht vergessen. Nur jetzt – da kommt so ne Alte, zitiert mich zur Wandtafel und dreht mich so durchn Fleischwolf, dass ich nur noch Bahnhof verstehe. Da haben wirs, Rimants, setz dich. Für dich ne Fünf. Und dann schneidet sie ne zufriedene Grimasse. Vor ihr waren Mathematik und Algebra n Kinderspiel, aber jetzt schiebt sie uns solche Aufgaben unter, dass … Ich löse sie, aber sie sagt, ich löse sie nicht richtig. Ich würde die Formeln nicht kennen, mit denen ich sie viel schneller lösen könnte. Was macht es für nen Unterschied, wie man die Aufgaben löst? Sagt es mir. Soll sie sich doch unterm Herbstlaub begraben. Zählen kann ich. Und wenn ich nachzähle, wer wie viel kriegt, dann sehe ich, dass es n Riesenunterschied ist, wie viel und wie mans verdient. Wenn ich mit zwei, drei Fahrten nen Lehrerlohn abkassiere, dann sagt mir, wer weiß hier nicht, wie man richtig Kohle macht – sie oder ich? Da habt ihr sie, die Gleichungen und Formeln. Witzlos, Zeit mit der Schule zu verschwenden. Du bringst ne gefälschte Entschuldigung mit, und damit hat sichs, nicht ne Stunde ohne triftigen Grund gefehlt. Ich habe schon n gutes Händchen für diese Entschuldigungsschreiben. Anfangs nahm ich eins von meiner Mutter, dazu n leeres Blatt, und ab damit, an die Fensterscheibe halten – und dann zog ich ihre Unterschrift nach. N wenig Training, und jetzt kann ich ihr Autogramm im Schlaf.

      Kein Grund zur Sorge also.

      Aber kaum in Riga ausgestiegen, war es auch schon vorbei mit der Ruhe. Aber nicht etwa, weils hier kalt, voller Matsch und Dreck war. Landschaft und Wetter kratzten mich nicht. Und obwohl die farbigen Schilder beinahe grau wirkten, strahlte für uns dort alles. Als würden uns dahinter Licht und Seligkeit erwarten, fast wie der Tunnel, durch den die Seelen nachm Tod reisen. Die Zeitungen waren ja voll mit solchem Zeugs. Nur strahlte uns vom Ende unseres Tunnels nicht das ewige Leben entgegen, sondern n Haufen Geld in Form von lettischen Rubeln.

      Dann kriegste dich wieder ein und es klingelt bei dir, jetzt ist nicht die Zeit zum Relaxen, denn jetzt kommt erst der wichtigste Teil. Und das Wichtigste ist, dass man dich nicht einsackt, du hast ja keine Verkaufsgenehmigung und denkst nicht einmal im Traum daran, dir eine zu besorgen. Also, du steigst ausm Zug und gehst diese Wische holen … Während die anderen ihre Ware in aller Ruhe verticken und schon zwei Stunden später wieder aufm Heimweg sind, biste noch nicht mal an der Reihe mitm Überprüfen der Qualität der deinen. Und dann kostet die Genehmigung auch noch was. Fürn Arsch. Also, du stellst dich hin, schmeißt die Taschen wies gerade kommt aufn Boden, trittst n wenig zurück, und schon kommen die Käufer einer nachm anderen, suchen sich was aus und stellen Fragen. Sich vor den Rigaer Markthallen hinzustellen ist genauso, wie während der Laichzeit zu angeln. Nur braucht man hier ne Genehmigung, anderswo nicht. Aber wie sollte man der Versuchung widerstehen, alles schnell über

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