Handlungsfelder des Bildungsmanagements. Ulrich Muller
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Der amerikanische Organisationspsychologe Peter B. Vaill (1998) bezeichnet die schwierigen Verhältnisse in den komplexen, interdependenten und instabilen Großsystemen unserer heutigen Gesellschaft mit dem plastischen Begriff „permanentes Wildwasser“. Dieses „permanente Wildwasser“ nötigt uns, ständig Dinge zu tun, mit denen wir wenig Erfahrung haben oder die wir noch nie vorher getan haben. Anstatt Routineaufgaben zu erledigen, sind wir ständig gefordert, einfallsreiche und innovative Lösungen für immer wieder neue Problemlagen zu finden.
Vielfach werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen Organisationen und Führungskräfte heute agieren, auch als „VUCA-Welt“ bezeichnet. Das Akronym VUCA steht für die englischen Begriffe volatility (Unbeständigkeit), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität) und ambiguity (Mehrdeutigkeit). Mack & Khare sehen im Konzert dieser Faktoren die Komplexität als den zentralen Ausgangspunkt, der Volatilität und Ungewissheit zur Konsequenz hat, was widerum zu einer Mehrdeutigkeit in der Wahrnehmung der handelnden Personen führt (vgl. Mack & Hare, 2016: 7ff.).
Diese hier als „permanentes Wildwasser“ oder „VUCA-Welt“ bezeichnete Situation betrifft Bildungsorganisationen – ob es sich nun um eine betriebliche Bildungsabteilung, eine Erwachsenenbildungseinrichtung oder eine Schule handelt – in doppelter Weise: Zum einen ist es ihre Aufgabe, die Lernenden auf die Bewältigung von „Wildwasserbedingungen“ vorzubereiten und sie bei der Aneignung entsprechender Kompetenzen zu unterstützen. Zum anderen agieren diese Organisationen selbst unter „Wildwasserbedingungen“ und müssen sich z.B. unter hohem Konkurrenzdruck auf umkämpften und sich schnell verändernden Märkten behaupten.
Bildungsinstitutionen sind gefordert, diesen neuen Anforderungen Rechnung zu tragen. Die eingangs erwähnten globalen Entwicklungen und Herausforderungen schlagen immer mehr auf unsere Schulen und Hochschulen, auf betriebliche und überbetriebliche Weiterbildung durch. Bildung wird durch diese Entwicklungen beeinflusst und muss darauf reagieren; sie muss vor diesem Hintergrund jedoch auch unter der Perspektive einer globalen Verantwortung verstanden und entwickelt werden. Bildung ist nicht die Lösung für die genannten Problemlagen, doch ohne Bildung wird keine dieser Herausforderungen zu bewältigen sein3.
Menschen brauchen vielfältige Unterstützung, um sich die Kompetenzen aneignen zu können, die für die Lösung der Probleme notwendig sind. Dabei greifen die traditionellen Formen des Lehrens und Lernens, die überkommenen Konzepte und Methoden zu kurz. Um das ganze Potenzial menschlichen Lernens zu wecken und zu pflegen, bedarf es einer Lernkultur, die
■ aktives, handlungsorientiertes und persönlichkeitsbildendes Lernen ermöglicht,
■ sich innovativer und kreativer Lernformen bedient,
■ vielfältige Lernorte nutzt und integriert: neben den „klassischen“ Seminar- und Unterrichtsräumen z.B. auch den Arbeitsplatz, Museen und Bibliotheken oder virtuelle Lernräume,
■ selbstorganisiertes Lernen unterstützt,
■ die vielfältigen Möglichkeiten der neuen Medien nutzt, dabei aber auch deren Grenzen nicht übersieht.
Es gilt, unsere Bildungsinstitutionen von „Lehranstalten“ zu vielfältigen und inspirierenden „Lernlandschaften“ umzubauen. Doch für diese neuen Aufgaben steht nur selten eine reiche finanzielle Ausstattung zur Verfügung, im Gegenteil: Angesichts knapper Mittel sind Bildungsorganisationen gefordert, mit den vorhandenen Ressourcen sparsam umzugehen, sie so einzusetzen, dass daraus der größtmögliche Lerngewinn resultiert, und ihre Wirksamkeit unter Beweis zu stellen. Auch Bildungsorganisationen und -prozesse werden heute an Kriterien, wie zielorientiertem Handeln und effektiver Ressourcenbewirtschaftung, gemessen. Um die nötigen Reformen in Bildungsinstitutionen erfolgreich anstoßen und nachhaltig umsetzen zu können, genügt eine bürokratische Verwaltung nicht mehr. Vielmehr bedarf es eines modernen, gleichermaßen visionären wie effektiven Managements. So stehen Führungskräfte im Bildungsbereich vor großen Herausforderungen und zwar sowohl in pädagogischer, als auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Zur Bewältigung dieser anspruchsvollen Aufgaben benötigen sie vielfältige Kompetenzen – und müssen den Überblick bewahren.
Wenn wir Vaills Metapher aufgreifen und fortführen, so lassen sich die Aufgaben von Führungskräften im Bildungsbereich als „Navigieren im permanenten Wildwasser“ beschreiben. Navigieren kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ursprünglich „schiffen, zur See fahren“. Das ZEIT-Lexikon definiert „Navigation“ als „das Führen eines Wasser- Luft- oder Raumfahrzeugs von einem Ausgangsort auf bestimmtem Weg zu einem Zielort, einschließlich der dazu erforderlichen Mess- und Rechenvorgänge zur Bestimmung des augenblicklichen Standortes (Ortsbestimmung) und des Kurses“ (Dönhoff et al.: 271 f.).
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Führungsaufgaben in Bildungseinrichtungen sind komplex. Die Systembedingungen, unter denen Organisationen heute agieren, sind unübersichtlich und einem schnellen Wandel unterworfen. Führungskräfte handeln unter hohem Druck. Die Anforderungen, die an sie gestellt werden, sind paradox und stehen in vielfältigen Spannungsfeldern, wie z.B. Mitarbeiter- vs. Aufgabenorientierung, langfristige, proaktive und vorausschauende Planung vs. kurzfristiges Reagieren auf akute Problemlagen, Stabilität vs. Flexibilität etc. Die Metapher „Navigieren im permanenten Wildwasser“ umschreibt diese Aufgabenstellung.
Die Metapher des „Navigieren im permanenten Wildwasser“ ist im Grunde paradox – und kennzeichnet gerade dadurch besonders treffend den Spannungsbogen der Aufgabenstellung: Wildwasser ist buchstäblich „im Fluss“. Die Richtung und der grundsätzliche Verlauf sind weitgehend vorgegeben. Auf den ersten Blick bleibt uns nichts Anderes übrig, als dem Flusslauf zu folgen und zu sehen, wie wir am besten durchkommen. „Navigation“ – als Begriff aus der Seefahrt – setzt andere Akzente: Hier geht es darum, sorgfältig den eigenen Standort zu bestimmen, das Ziel anzupeilen und eine Route zu finden. Orientierungspunkte für die Navigation auf hoher See boten über Jahrhunderte hinweg die Fixsterne. Ein bewegtes Umfeld oder vorüberziehende „Stars“ eignen sich dafür nicht. Die Standortbestimmung muss besonders sorgfältig erfolgen, denn kleine Abweichungen werden aufgrund der Winkelgesetze bei der künftigen Fahrt drastisch vergrößert und haben fatale Folgen. Wer im permanenten Wildwasser navigieren will, muss dazu das Tempo reduzieren und eine ruhige Stelle aufsuchen, womöglich aus dem Fluss „aussteigen“ und vorübergehend ganz stehenbleiben. Eine sorgfältige Standortbestimmung und gute Landkarten führen ggf. zu dem Ergebnis, dass es besser ist, den Lauf des Flusses zu verlassen, über Land zu gehen und eine Schlaufe des Flusses abzukürzen. Nicht umsonst finden vor dem Hintergrund dieser paradoxen Anforderungen Konzepte wie Achtsamkeit und Selbstreflexion als notwendige Haltungen und Kompetenzen in neueren Führungsansätzen große Beachtung (vgl. z.B. von Au, 2017).
Das permanente Wildwasser nötigt uns in Bildungsorganisationen oft ein hohes Tempo ab, das keine Zeit mehr lässt für sorgfältige Standortbestimmung und Routenplanung. Diese Zeit aber sollten wir uns nehmen. Gerade dann, wenn man den Wandel akzeptiert und die erforderlichen Innovationen vorantreiben will, bedarf es der Zeit, um zwischen der Mode und dem bloßen Aktivismus auf der einen Seite sowie den notwendigen Veränderungen und der echten Erneuerung auf der anderen