Das andere Brot. Rosemarie Schulak

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Das andere Brot - Rosemarie Schulak

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Die Mutter des Herrn B. nahm ihn in ihre Arme, bevor sie wieder drinnen im Haus den Riegel vorschob. Der Kleine war damals kaum mehr als acht Jahre alt. Als seine Tränen endlich versiegten, alles erzählt und das Schmalzbrot verzehrt war, das sie ihm vorgesetzt, sah er sich in dem schönen Raum um. Da hingen Geweihe an den Wänden, dort glänzten Gläser in einem Regal, und über den Tisch war ein sauberes Tuch gebreitet. So etwas hatte das Kind nie gesehen. Der alte Herr fasste ihn an der Hand und führte ihn vor eine verschlossene Kredenz. Sagst halt Großvater zu mir, meinte er begütigend und öffnete die gläserne, mit Blumenmustern verzierte Tür. Da gab es drei Reihen voll Bücher, große und kleine, mit dicken und dünnen, hellen und dunklen, grünen und braunledernen Rücken. Manche hatten goldene Buchstaben darauf und Georg durfte mit der Hand berühren was der alte Herr für ihn aus der Kredenz hob. Zwar kann man Bücher nicht essen, meinte der Vater des Herrn B. mit einem Lächeln, doch eigentlich schmecken sie besser als Grießnudeln, glaube mir. Manchmal sogar noch besser als Brot, und einmal wirst du es wissen. Natürlich nur wenn du lernst, sie richtig zu lesen. Das und Ähnliches murmelte er in seinen schlohweißen Bart hinein. Dann, so meinte er zu Georg gewendet, gehören sie dir.

      Besser als Brot? Georg konnte das Wunder nicht fassen. Ein anderes Brot, ergänzte freundlich der alte Mann und Georg sah zu ihm auf und wusste nicht, wie ihm geschah. Aber er konnte ja lesen! Warum wusste das niemand, warum hörte ihm nie einer zu? Selbst die Lehrerin nicht, vor der er sich fürchtete, weil er jeden Tag und immer noch an dieses kreuzweise Pflaster über dem Mund denken musste. Durch Tränenschleier betrachtete er den alten Herrn, der sein Großvater nicht war, wie Herr B. ihm eingeschärft hatte. Und trotzdem durfte er Großvater zu ihm sagen? Wie war denn das möglich? Herrn B. durfte er nie anders als mit „Herr B.“ ansprechen, zu Frau B. nichts anderes sagen als eben „Frau B“. Und natürlich galt jederzeit nur die Anrede „Sie“. Georg war an anderes nicht gewöhnt, doch wusste er sehr genau, dass der Bertl, der Sohn der Familie, „Vater“ und „Mutter“ sagen durfte und natürlich auch „du“. Den Bertl lobten sie wegen seiner Tüchtigkeit, während sie Georg zu den Hasen schickten, wenn sie dem eigenen Kind bei den Aufgaben halfen. Wie sehr hätte Georg sich gewünscht, dass ihm wenigstens einmal einer beim Lesen zugehört oder beim Schreiben zugeschaut hätte. Wenigstens einmal! Aber Herr B. wollte das nicht. Du musst lernen, alles selber zu machen, sagte er gern, im Leben hilft dir auch keiner weiter. Und ich bin nicht dein Vater! Noch schmerzvoller fand Georg das Verbot, zum Bertl „Bruder“ zu sagen. Als ihn die anderen Buben verspottet hatten, ihm wieder einmal einer ein Bein stellen wollte, rief Georg in seiner Empörung: Ich sag’s meinem großen Bruder! Der Bertl aber hatte darauf nur gelacht und Georg nicht einmal angeschaut. Der ist nicht mein Bruder, hatte Bertl gemeint. Der? Der ist doch nicht mein Bruder!

      Nein, Georg würde das Wort „Großvater“ nicht über die Lippen bringen. Wie er ganz sicher wusste, war das verboten. Jetzt getraute er sich kaum zu atmen vor Verlegenheit und Glück. Später erinnerte er sich oft an den alten Mann und seine Worte, an diese einzigartige Szene vor der Kredenz mit den drei Bücherreihen darin; dass eine unbeschreibliche Faszination davon ausgegangen war und dass er das alles nie hätte vergessen wollen. Wie gern hätte er einen Großvater gehabt! Die wenigen Tage, die er in dessen Haus verbringen durfte, versprachen ein neues, nie empfundenes Lebensgefühl. Von den Speisen, die Georg auf seinen Teller bekam, stieg ein Duft auf wie er ihn noch nie genossen hatte. Er durfte essen so viel er wollte. Menschen kamen in dieses Haus, die nie zu Herrn B. gekommen wären. Am Sonntag erschien der Herr Oberförster mit Frau zu einer Jause. Georg durfte ein Stück Gugelhupf nehmen und bekam sogar noch ein zweites. Dann sah er beim Kartenspiel zu. Dabei waren alle fröhlich und niemand wies ihm, Georg, die Tür.

      Das alles zeigte sich jedoch bald als ein Traum. Es kam zum Wettstreit zwischen Vater und Sohn. Dem betagten Ehepaar wurde das Adoptionsrecht nicht zuerkannt. Zu alt, war das Urteil; auch liege eine Notwendigkeit für ihr Ansinnen nicht vor. Herr B. aber hatte wenig Verständnis für seine Eltern, noch weniger allerdings für jenes gefräßige Kücken, das ihm – wer das gewesen, brauchte ja niemand zu wissen – ins warme Nest gelegt worden war. Er sei nicht der Vater, ein für allemal! sagte er laut. Und wer freiwillig für die Ernährung dieses unersättlichen Bengels zahlen wolle, könne das jederzeit tun.

      Der Entscheid sprach für Herrn B. und Georg musste wieder zurück in dessen Haus. Verboten war ihm von da an jeder Kontakt mit den alten Leuten. Würde er zuwiderhandeln, dürfe er in seinem warmen Nest nicht mehr bleiben. Georg weinte nach den beiden Alten, wusste er doch außer dem ihren kein anderes Nest. Und bei Herrn und Frau B. war es ja nie besonders warm gewesen.

      Die Eltern des Herrn B. starben bereits nach wenigen Jahren, erst der Mann und bald danach seine Frau. Herr B. aber war ab dem Zeitpunkt oft außer Haus und kam manchmal tagelang nicht heim. Frau B. sagte nichts. Sie besorgte sich wöchentlich Liebesromane aus der Sammlung des Trafikanten, und Georg hatte sie, wenn alles gelesen war, pünktlich zurückzubringen um neue zu holen.

      4 GEBOREN WORDEN

      Zwar ist es ganz sicher, dass, zuweilen jedoch höchst unsicher, wo, wie und wann ein Mensch in diese Welt kam. So mancher fragt sich ja auch, warum überhaupt. Wenn Georg derlei Fragen zu hören vermeinte, um sie danach im Stillen sich selbst zu stellen, wusste er darauf keine Antwort. Reden von einem Storch, der ein Kind einfach fallen ließ, irgendwohin, hatten ihm immer schon Abscheu und tiefstes Grauen bereitet. Er misstraute den riesigen Schnäbeln der Vögel, ihrem fremden, spannweiten Gefieder, vor allem aber der Art, wie Störche zu gewissen Zeiten im Tiefflug über Dächer und Felder zogen. Im Herbst pfeilten sie quer durch die Gegend über den Berg, im Frühjahr aber zu einem nicht weit entfernt liegenden See, weil es dort Frösche, Schilf und auf Bäumen und Dächern allerlei Nistplätze gab. Georg fürchtete jene Stellen, an welchen sie landeten, scheute das braune Wasser wie auch den breiten, träg dahin rinnenden Bach mit Büschen rundum und Wäldern, so wie alle feuchtdunklen Landschaften und die Au, wohin ihn manchmal, wie auch an den See, einer mitnahm.

      Ein Findelkind bist du gewesen, sagten die Leute. Was ist das? hatte er prompt gefragt, doch das fragte er später nicht mehr. Gefunden war er worden, doch nicht von Storchenvögeln und von solchen auch keineswegs fallen gelassen. Von wem also fallen gelassen? Wieso und wo war er schließlich gelandet? Wäre er an einem Bachrand gefunden worden, an einem von Sonne beschienenem hellklaren Wasser, in ein reinliches Körbchen gesteckt, das sich leicht einhaken konnte zwischen Wurzeln und moosigem Stein, mit Butterblumen an seiner Seite, die sich hin- und herbewegten im Wind, er hätte es gerne herum erzählen wollen. Dann wäre auch er gewesen was jeder andere war, nämlich einer, der eine Herkunft hatte; zwar seltsam und geheimnisvoll, doch immerhin; er hätte benennen können was war, so wie das alle anderen taten, die morgens munter aus dem Tor ihrer Elternhäuser schlüpften und abends dahin zurückkehrten mit einigem Recht, weil das ihr Zuhause war.

      Wie schön wäre es gewesen, hätte es auch von ihm irgendwelche Geschichten gegeben, die man hören und hätte erzählen dürfen; eine wie die, welche einmal im Bäckergeschäft von Leuten erzählt worden war; dort hätte er auch die seine zum besten geben können. Wären die baff gewesen, diese Neugierigen, die ihre Fragen immer nur aus dem Hinterhalt stellten, damit sie sich lustig machen konnten über einen, der sich schämte, das Wort „Vater“ oder „Mutter“ nie ausgesprochen zu haben, weil mutterseelenallein auf der Welt. Oder weil er kein Recht hatte, einfach zu sagen was Wirklichkeit war. Frau B. nämlich, die manche seine „Ziehmutter“ nannten, obwohl sie das sicher nicht war, die hätte solche Anrede gleich abgewehrt, hätte sie diese gehört. Für Scherze hatte Frau B. weder Zeit noch ein Ohr. Nein, Ziehmutter war sie wirklich nicht, das hätte Georg ganz sicher bemerkt. Auch war ihr bereits dieses Wort zuwider, und von Georg sprach sie, wenn überhaupt, höchstens als von einem „Kostkind“ ihres Mannes, wenn einer dumme Fragen stellte.

      In seinem Kostquartier redete der Bub daher wenig, er war meist nur da, wenn zur Mahlzeit gerufen. Aß was ihm vorgesetzt wurde und lief wieder weg, wenn alles verzehrt und nichts mehr zu verteilen war. Am Abend schlich er zu seinem Eisenbett in die Kammer, die eigentlich Vorratskammer

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