Das andere Brot. Rosemarie Schulak
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Mit vierzehn war Bertl bereits aus dem Haus. Wo, das wurde dem drei Jahre jüngeren Georg nicht mitgeteilt. Vielleicht bei seinem Lehrherrn? Bei seinem leiblichen Vater oder sonst irgendwo, das wusste Georg nicht. Er erinnerte sich aber oft an seine Erlebnisse im Wald mit den abgeschnittenen Fichten.
Ein Christbaum wäre halt schön, ließ sich Georgs Stimme von seiner Zimmerecke her vernehmen, weil es schon Abend war und Frau B. bereits mit dem Lesen eines spannenden Liebesromans beschäftigt. Georg sagte das gar nicht laut, doch hörbar genug. Es war ja auch tatsächlich Weihnachtszeit und am nächsten Tag Heiliger Abend. Frau B. fühlte sich zwar gestört, fand aber doch eine Antwort. Was denn net no alles! meinte sie unwirsch. So was macht nur a Arbeit und steht dann herum. Als Georg antworten wollte, fiel sie ihm ungeduldig ins Wort: Wennst an willst, holst dir halt an vom Wald, weil kaufen tua ma kan.
*
Ja die Liebesromane! Hätte denn einer gedacht, dass auch in Georgs Sinnen damals kaum anderes zu existieren schien als die Liebe? Sie rumorte in seinem Kopf wie ein verborgener, im Hinterhalt aufmüpfig drängender, doch nie in Erscheinung tretender Geist. Georg war verliebt und wusste nicht, was er darüber denken sollte. Die Kathi vom Nachbarhaus, die mit den lichten Locken und den himmelblauen Maschen hinter den Ohren war es, die von der Vorderbank des weitläufigen Klassenraums her ihn oft freundlich ansah, sich nur allzu gern umdrehte und zu allem lachte, was immer auch Georg sagte und tat. Gern hätte er ihre Zöpfe angefasst und mit ihr geredet. Doch wie sollte er das beginnen?
Einmal war auf dem Weg in die Trafik in einem der Romanhefte der Frau B. ein praktischer Hinweis über die Liebe zu lesen. Blumen! Ein Mann bringt seiner Geliebten Blumen und die Angehimmelte freut sich darüber. Georg erinnerte sich auch eines Kinofilms, in dem so ein Blumenstrauß eine wichtige Rolle gespielt hatte. Nichts leichter als das, hatte Georg damals im Frühling gedacht. Blumen wachsen ja überall. Bald hatte er eine Faust voll Löwenzahnblüten gepflückt und mit einer Schnur zusammengebündelt, sie wie das Holz aus dem Wald fest eingeschnürt, damit nichts verloren ging. Das Ergebnis dieser süßen Mühe warf er abends über die Mauer, damit die lieben Nachbarn sie fänden beim Gießen: die Kathi und ihre Mutter. Was soll denn sonst ein Mann tun, dachte Georg bangen Herzens, damit ein Mädchen mit ihm zu reden beginnt?
Heimlich hatte also auch Georg diese nützlichen schönen, nur ganz wenig zerfledderten Romanhefte des Trafikanten im Auge. Wie ist das denn mit der Liebe, sinnierte er noch im nachtdunklen Zimmer. Zwei Leute verlieben sich und wünschen sich einen Kuss. Wenn das vorbei ist, hören sie aber nicht auf zu wünschen, was ziemlich spannend werden kann, weil es immer irgendeine Aufregung gibt, Verwicklungen und Ärger. So stand es auch in dem Heftchen, in dem er, Georg, einmal heimlich gelesen. Am Schluss gibt es immer die Versöhnung. Was für ein Glück, dass er mit seinen elf Jahren nun wirklich schon sehr verliebt war, also Erfahrungen hatte. Zu einem Kuss war es allerdings nie gekommen.
Durchaus verständlich war für Georg, dass auch Frau B. die Romanhefte so spannend fand, dass sie gar nicht aufhören konnte damit. Ein besonders gutes Brot muss das sein, dachte er, weil sie nie hungrig wird während des Lesens. Er schon. Waren das vielleicht Liebesgeschichten, die er nicht lesen durfte? Er verkniff sich die Frage, um die neue Friedlichkeit der Frau B. nicht auf die Probe zu stellen. Neuerdings hatte sie ihm sogar geraten, doch die Bücher ihres Sohnes zu lesen, die in der Kammer herumlagen. Georg selbst hätte nie darum bitten wollen, hatte auch selber derlei niemals geschenkt bekommen. Also betrachtete er die Schätze des Ziehbruders, der ja nicht sein Bruder war und überhaupt nie sein hätte wollen mit kühler Distanz, nahm sie eines Abends aber trotzdem mit in sein Bett. Seinen Hunger vergaß er gleich nach den ersten Seiten der Abenteurergeschichten und erfreute sich an ihnen ohne Bitterkeit.
So ließ es sich leben. Immer wieder erinnerte sich Georg an den alten Herrn, der seine Bücher im Glasschrank ein anderes Brot genannt hatte. Für Frau B. schien das tatsächlich zuzutreffen, Georg irrte sich nicht. Sie hatte keinen anderen Appetit als den nach neuen Heften. Die Abenteuerbücher des Bertl auf Georgs Nachttisch waren bald ausgelesen und entsprechend hungrig lag er da. Einmal, er konnte nicht anders, schlich er barfuß wie er war, um den Tisch herum und erblickte Frau B. in ihrem Bett, unter der Tuchent, den Kopf seitwärts in die abgewinkelte Hand gestützt. Sie sah nicht auf, als er, mit Herzklopfen zwar, aber doch mutig, um eins ihrer Hefte bat. Nimm was d’ willst, brummte sie, weil es ihr wirklich egal war, und blätterte geschwind eine Seite um.
Der Vorteil dieser Lesezeiten lag klar auf der Hand. Friede war eingekehrt, seit die Liebesgeschichten sich auf Tischen und Sesseln stapelten. Stille und beinah Behaglichkeit. Auf seinem regelmäßigen Weg zum Romanheftverleiher nahm Georg daher nach und nach noch weitere Leseproben aus dem Dunstkreis der Frau B., was ihn veranlasste, abends immer wieder in die gegenüber liegende Zimmerecke zu schleichen und um die nächste Geschichte zu bitten. Er las so lang, bis er meinte, nun alles zu wissen über die Liebe und sie am Ende recht eintönig fand.
Du hast Recht, es ist immer das Gleiche, sagte der Trafikant. Nimmst halt was anderes. Und fingerte aus seinem Regal einen stattlichen, nur wenig beschädigten Band hervor. Das war ein richtiges Buch. Joseph Conrad, Engländer zur Zeit Charles Dickens. „Der Verdammte der Inseln“. Damit begann was bald nicht mehr enden sollte, die Lust auf Bücher samt allen Möglichkeiten, die sich daraus ergaben. Georg gelang ein erster Blick über die armselige, den wachen Geist beengende Dörflichkeit hinaus in ein buntes Dasein. Leichtfüßig wie er war gelang ihm der Übertritt wie im Spiel.
Was der Wahl-Engländer Joseph Conrad damals für Georg bedeutete ist aus seinem späteren Leben nicht mehr wegzudenken. Dieser große reisende Mann ganz anderer Herkunft führte ihn – durch Vermittlung eines Trafikanten – aus seiner Einsamkeit heraus. Nahm ihn ganz einfach an die Hand und öffnete dem verschlossenen Kostkind der Familie B. mit seinen großen Romanen die erste Tür in die Welt erlesener Literatur. Joseph Conrad lenkte das Interesse des Knaben von öden Liebesgeschichten in eine Richtung, die auch später dem Heranwachsenden das Leben spannend und immer wieder erträglich machte, war Initiator seltener Erfahrungswelten und stillen Leseglücks. Ließ ihn teilhaben an den Abenteuern des Dschungels, fuhr mit ihm auf schwarzer, stürmischer See, drängte Georgs kurze, aber umso schmerzvoller erlittene eigene Lebenserfahrung in den Hintergrund, vielleicht in ähnlichem Ausmaß wie der Autor selbst seine bösen Erfahrungen durch Hingabe an das Schreiben gemeistert hatte. Abenteuerliche Geschichten waren es, die Georg da las. Wilder und gefährlicher als alles, was sich in Georgs Kopf bisher als wild und gefährlich gezeigt hatte.
7 WAS, WO UND WARUM
Von Zeiten bewussten Lesens darf also fortan die Rede sein. Denn wessen Zeit und Geschichte vordem im minder Bewussten geblieben, weil sie misslich, verwerflich oder einfach nicht zu verstehen war, dem wird das Ereignis erster wacher Leseerlebnisse umso näher sein, Momente der Bewusstwerdung seiner selbst umso deutlicher im Gedächtnis bleiben um später viele dunkle Stunden und schweigende Nächte zu füllen. Und um wieder erzählt zu werden.
Erzählen war allerdings Georgs Sache damals nicht. Neugierige Frager konnten froh sein, wenn sie überhaupt eine Antwort erhielten, knapp, ungeduldig oder gelangweilt. Das kam erst viel später. Doch kaum berichtete Georg von seiner Schulzeit, noch weniger von vermisster Zuwendung und fehlendem Trost jener Jahre und gar nichts vom Schmerz. Umso wichtiger wurde, was alles im Laufe der Zeit an Büchern ihm unter die Augen kam. Nach mehreren Bänden Joseph Conrad fand sich im Regal des Trafikanten einmal durch Zufall nichts anderes als ein Band Karl May. Dem konnte Georg nicht allzu viel abgewinnen. Ihm gefielen zwar einsame Ritte durch die Prärie, Indianerkämpfe jedoch weit weniger. Sie erinnerten ihn an Kinderspiele, an die Buben seiner Klasse, die derlei unter sich auf den Wiesen hinter dem Dorf ausfochten oder oben am Waldrand. Ihnen war er gern ausgewichen, aus Abscheu vor blutigen