Das andere Brot. Rosemarie Schulak

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Das andere Brot - Rosemarie Schulak

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      Georg schaut fröstelnd in den beinah schon entlaubten Garten hinaus. Hat denn da wirklich einer nach seinem Geburtstag gesucht? Nie hat er jemals Geburtstag gehabt. Andere haben so etwas jedes Jahr. Für ihn ist ein Geburtstag nie denkbar gewesen, nur der Bertl hat den seinen jährlich gefeiert und noch dazu ein Geschenk bekommen. Gibt man einem Kostkind seine Dokumente vielleicht deshalb nicht in die Hand, damit man sich zusätzliche Gaben an ihn erspart? Oder weil dabei Fürchterliches zu Tage käme? Doch egal, was geschrieben steht in solchen Papieren, von Georg werden sie dringlicher erwartet mit jedem Tag, in jedem Fall sind sie wünschenswert.

      Mit zwiespältigen Gefühlen zählt Georg Tage und Wochen, die er im Haus der Frau B. verbringt. Sie meint, für das Kämpfen sei er sowieso viel zu jung. Zu jung, um schon ein Mann zu sein. Der Bertl ja! Der sei einer gewesen. Wieso, verteidigt sich Georg, wieso bin ich kein Mann? Er ist in dem letzten Jahr wieder ein Stück gewachsen, sieht sauber gewaschen aus. Frau B. blickt ihm nach, wenn er aus und ein geht bei ihr und wischt sich immer wieder die Augen. Wegen Bertl muss sie weinen, nicht wegen Georg. Das wissen die Nachbarin und alle anderen Dorfbewohner auch. Sie betrachten Georg scheu und nie ohne Nachdenklichkeit. Jetzt geht er bald fort. Wird ja vermutlich auch bereits sechzehn sein.

      In Wahrheit ist das ein längst verlorener Krieg, klagen die Nachbarn. Dass dieser auch mit Georg und seinen Altersgenossen keineswegs zu gewinnen sein kann, haben alle begriffen. Die Burschen sind herausgeholt worden aus ihren Nestern und so, wie sie da standen, begutachtet, registriert. Der Volkssturm hat alle Sechzehnjährigen mit sich gezogen und zögert so lang nur bei Georg. Bis endlich einer der wichtigen Männer der Dorfgemeinde in der Amtsstube ihm alles Nötige überreicht. Mit der trockenen Erklärung, die vorliegenden Papiere seien ab nun die seinen.

      Georg schämt sich für seine Aufregung, seine Hilflosigkeit. Sein Herz klopft wie wild. Da, deine Geburtsurkunde! sagt der Mann. Du bist zwar erst fünfzehn, aber bald wirst du sechzehn sein. Du freust dich doch, dass du jetzt Dokumente hast wie alle anderen? Weißt ab nun, wer du bist und woher du kommst, wann geboren und wo, und auch, wo du jetzt hingehörst. Kannst also ruhig zum Volkssturm gehen. Das sagt er launig und drückt Georg die kostbaren Papiere in die schweißnasse Hand. Hat einige Zeit gedauert und eine Menge Arbeit gemacht, fügt er hinzu. War nicht einfach, das zu bekommen. Deine Heimat ist nämlich nicht dieser Ort, sondern ein anderer.

      Was? Laut aufschreien darf Georg hier nicht, nur erschrocken ist er. Nimmt seine Stimme gleich wieder zurück. Und wo …? Er greift nach einer Stuhllehne, die in Reichweite steht, um sich festzuhalten, fühlt sich elend und ziemlich getroffen. Wo … gehöre ich hin?

      Das steht’s eh g’schrieben, lacht der Mann, schaut in eine aufgeschlagene Mappe und wird fast ein wenig verlegen dabei. Wirst es gleich selber lesen. Darauf weiß Georg nichts zu sagen. Was denn auch. Wenn anderswo sein Wohnort ist, wieso steht er dann hier? Die Papiere zittern in seiner Hand, er fürchtet sich sie vor die Augen zu heben. Und was, wenn hier behauptet wird, er ist gar nicht der, für den er sich hält? Immerhin, zumindest der Name stimmt. Georg. Der andere Name auch. Und da steht …, wahrhaftig! Da steht auch der Name einer Frau, vermutlich derjenigen, die ihn geboren hat. Röte steigt auf in Georgs Gesicht, in die Augen. Schwach werden ihm Hand und Knie. Stehend liest er den Namen der Frau, die ihn nicht so wie der Märchenstorch mit dem Schnabel gebracht, sondern mit Menschenhänden irgendwo hingelegt und dort einfach liegen gelassen hat. Sie selber ist fortgegangen. Irgendwohin. Sein Geburtsort ist die Stadt, dieselbe, aus der er eben gekommen ist, wo er als Lehrling gewerkt und gewohnt hat. Gehört er … dorthin …?

      Nein, dorthin auch nicht. Georg kann nicht lachen, obwohl der Mann an dem Schreibtisch ihm schelmisch zuzwinkert. Hierher gehört er nicht, dorthin auch nicht. Doch er hat eine Mutter, hier steht sogar der Name der Frau, die er nicht kennt. Nie gesehen, sagt er dem Mann vor ihm. Nein wirklich nie! Ein Vater freilich, ist auf dem Papier nicht dokumentiert, auch nicht zu finden gewesen, denn in dieser leeren Zeile – er starrt sie immer noch an – da steht überhaupt nichts …, nichts als ein Strich. Das würde er sich von jetzt ab merken müssen und nie vergessen. Ein Strich für den Vater …

      Das Papier entgleitet der erstarrten Hand, die es halten sollte. Georg bückt sich, es aufzuheben. Dabei wird ihm schwindlig und schlecht zum Erbrechen. Der Amtsträger ist auf einen so seltsamen Fall nicht vorbereitet, ihm ist bei der Sache ja auch nicht besonders wohl. Und weil seine Scherze nicht ankommen bei Georg und ihm jetzt auch nichts mehr einfällt, weist er der Einfachheit halber den Burschen auf die Straße hinaus. Und aufpassen solle er auf die Papiere, nur ja nichts verlieren!

      Georg stolpert ins Freie. Er taumelt ein wenig, dann atmet er die schlechte Luft aus seinem Inneren aus und setzt sich in Bewegung. Bisher war auf die Fragen der Leute, wie alt er denn sei, immer nur ein verschämtes Achselzucken möglich gewesen. Manche hatten die hinterhältige Frage sogar wiederholt, wenn er rot wurde, zögerte und schnell kehrt machte, um davonzulaufen. Ab nun würde das anders sein. Kaum zu glauben, dass da ein Geburtsdatum steht und überall sein Name vermerkt ist. Da! Eines der Blätter trägt die Überschrift „Taufschein“. Georg nimmt sich vor zu fragen, was eigentlich damit bescheinigt ist. Was eine Taufe denn sei und wozu sie gut ist. Dieses Wort und was daran wichtig ist hat ihm der Mensch in der Amtsstube nicht erklärt. Georg will es wissen und weiß nicht, wen er fragen kann ohne Gelächter, Hohn oder andere Ärgernisse zu ernten.

      Das Papierbündel hält er jetzt, freier atmend, ganz fest in der Hand. Die zittert zwar noch, doch was seine Finger festhalten wollen, das halten sie fest. Daran rüttelt vergeblich der Wind, die Finger bleiben gehorsam. Da steht ja sehr genau sein Geburtstag, sein tatsächliches Alter lässt sich also nachrechnen. Nichts, denkt Georg, rein gar nichts von diesen Papieren darf jetzt davonfliegen.

      *

      Nur ungern erzählt er später diese Geschichte, und auch nur dann, wenn es dem Frager ein glaubhaftes Anliegen ist. Die Sätze kommen sehr kurz aus seinem Mund, nervös und kaum je ohne Zigarette.

      Was habt ihr beim Volkssturm denn gemacht? In einer vorgerückten Stunde wird Georg gefragt. War der Krieg nicht schon aus, als ihr, das letzte Aufgebot, knapp vor dem Ende des Ganzen, als halbe Kinder hinauszogt, vermutlich ohne Waffe in euren bibbernden Händen?

      Ach Waffen! meint Georg abschätzig. Die hätten wir sowieso nicht gebrauchen können, wie denn auch und wozu. Für Waffenausbildung war keine Zeit. Und Waffen waren ja gar nicht mehr da zum Schluss, weil alles weg oder einfach an einen anderen Ort gebracht worden war. Abtransportiert. Wie hätten denn wir … und wo …

      Nach und nach erst entsteht nach Georgs Erzählung ein halbwegs fassbares Bild. In die Gegend von Linz habe man am Schluss diese Burschen verschoben. Dort gab es noch deutsches Militär, dort wurde ab und zu noch geschossen. Nein, er war noch nicht sechzehn als er hat weggehen müssen, er war damals erst fünfzehn. Doch behielten sie ihn und andere Fünfzehnjährige auch, eine lose Gruppe von unausgebildeten Buben. Bis sie sechzehn waren und danach noch die Monate bis zum Ende. Aber doch Monate, die ihr bis Kriegsende beim Volkssturm verbracht habt! Wo denn, um Himmels Willen, seid ihr vorher gewesen und was habt ihr gemacht? Georg weiß es nicht mehr. Aber er muss doch Erinnerungen haben?

      Nein, keine Erinnerungen! Ob und wann der Krieg aus war oder nicht, auch das teilte man den Burschen in jenem Frühjahr nicht mit. Doch kann der Krieg nicht zu Ende gewesen sein, versucht Georg zu rekonstruieren, sonst hätten ja die Leute von der Wehrmacht bei Linz nicht geschossen. Die wenigen noch vorhandenen Waffen haben ältere Volkssturmmänner bekommen. Nicht wir, sondern Leute, die damit umgehen konnten, sagt Georg. Für seinesgleichen sei tatsächlich nichts übrig gewesen. Am Ende nicht einmal mehr Verpflegung.

      Aber Handgranaten für die feindlichen Panzer, die müssten doch dagewesen sein? Ja, die seien da gewesen, für eine Ausbildung der Volkssturmleute war aber keine Zeit, keine Möglichkeit. Waren doch nicht einmal mehr die Ausbildner da und die nötige Motivation der Burschen erst recht nicht. Angst ja, die habe jeder gehabt. Und Hunger. Sonst nicht

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