Der Todesengel mit den roten Haaren. Bernd Kaufholz
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Andere Flüchtlinge hatten „Glück“. Sie wurden „nur“ verstümmelt. Der letzte dieser sieben als „versuchte Tötungen“ angeklagten Fälle ist auf den 26. Juni 1984 datiert.
Wie bei ähnlich gelagerten Fällen üblich taktieren die Anwälte der Angeklagten mit Anträgen. Der erste betrifft die Verhandlungsfähigkeit des ehemaligen Kommandeursstellvertreters Alfred Hamberger – zuständig für die Grenz-Ausbildung zwischen der Lübecker Bucht im Norden und Drei Annen Hohne im Harz. Die 2. Große Strafkammer entscheidet: verhandlungsfähig.
Dann beantragt Suzanne L. Kossack, die Berliner Rechtsanwältin von Frithjof Banisch, die Einstellung des Verfahrens gegen ihren Mandanten. Sie vermied es zwar das Wort „Siegerjustiz“ in den Mund zu nehmen, allerdings stand der Begriff im Raum als sie sagte, dass mit bundesdeutschen Recht nicht über Personen gerichtet werden darf, die nach Gesetzen der DDR, eines souveränen Staates, gehandelt haben. „Soweit im Verfahren gegen den Angeklagten ausschließlich Richter der alten Bundesrepublik, die ihren Eid auf diese alte Bundesrepublik abgelegt haben, über Hoheitsträger eines anderen Staates, nämlich der DDR entscheiden, die sich mit der Bundesrepublik im Zustand des Kalten Krieges befand, kann ein solches Verfahren nicht fair genannt werden“, sagte die Anwältin. Die Rechtsvertreter der übrigen Angeklagten schließen sich dem Antrag ihrer Kollegin an.
In der Beratungspause schlagen bei den Ex-Offizieren unter den Zuschauern die Wellen erneut hoch. „Man kann doch nicht ein ganzes Volk auf die Anklagebank setzen“, sagt ein Oberstleutnant a. D. aus Stendal. Schließlich sei doch in jeder DDR-Familie jemand bei der NVA gewesen. Von Okkupation durch den Westen ist die Rede und davon, wie die Truppe auch jetzt noch zusammenhält, sich trifft und Wunden leckt. „Wie dieser Staat mit uns umgeht, das vergisst keiner“, sagt ein anderer. „Ich werde es sicher nicht mehr erleben, was die Zukunft bringen wird, aber …“ Das „aber“ bleibt ungesagt.
7. Oktober 1999 – in der DDR Feiertag. Erneut ist der Gerichtssaal 218 brechend voll. Auch am zweiten Tag des Grenzerprozesses sind wiederum viele NVA-Kameraden in die Altmarkstadt gekommen.
„Eine Schweinerei, die Leute müssten sofort freigesprochen werden“, schimpft einer der Zuhörer. „Am 50. Jahrestag der DDR gegen Grenzer zu verhandeln, ist eine Provokation.“ Ein anderer Ex-Offizier stimmt zu: „Der zuerst geplante Termin für die Urteilverkündung, der 1. Dezember, ist genauso eine Frechheit. Schließlich ist das der Tag der Grenztruppen der DDR.“ Die Tragik der „Ereignisse an der Staatsgrenze“ sei jedoch nicht zu leugnen. Sie stünden allerdings auf einem anderen Blatt. Hans-Jürgen Przybysz, Grenzoffizier a. D. nachdenklich: „Soll wirklich 40 Jahre alles falsch gewesen sein, wofür ich gelebt habe?“
Hilmar Rettkowski, Vorsitzender Richter der 2. Großen Strafkammer, weist zu Beginn des zweiten Verhandlungstages die von Anwälten der Angeklagten am 28. September gestellten Anträge ab. Dabei geht es unter anderem darum, welches Recht – DDR oder BRD – angewendet werden soll. Das zu entscheiden, werde die Beweisaufnahme zeigen, so Hilmar Rettkowski. Zur „Tötung unbewaffneter Republikflüchtlinge“ hätten sich allerdings Gerichte schon „abschließend und somit bindend“ geäußert.
Zum Vorwurf, dass West-Richter nicht fair über Hoheitsträger der DDR urteilen können, sagt der Vorsitzende Richter, dass alle drei anwesenden Berufsrichter erst nach dem 3. Oktober 1990 in Sachsen-Anhalt vereidigt wurden.
Rechtsanwalt Günter Krüger aus Stendal beantragt darauf hin, das Verfahren gegen seinen Mandanten Lantfried Kaltofen einzustellen. Der Ex-Stabschef habe weder gegen die Verfassung, noch gegen Gesetze der DDR oder Dienstvorschriften der Grenztruppen verstoßen. „Pflichtbewusstes Handeln kann keine Straftat sein“, so der Anwalt. Als Stabschef sei sein Mandant „nicht für den pioniertechnischen Ausbau der Grenze zuständig gewesen“.
Er bezieht sich damit auf den so genannten „Befehl 40“, der jährlich vom Kommandeur und seinen Stellvertretern erarbeitet wurde und in dem es um die Grenzsicherung, zum Beispiel durch Schusswaffeneinsatz, Minen und Selbstschussanlagen ging. Der „Teilbeitrag“, den der Oberst a. D. zum „Befehl 40“ der Jahre 1982 und 1983 leistete, habe „nur vorschlagenden Charakter“ gehabt. Außerdem habe es während dieser zwei Jahre am Grenzabschnitt zwischen der Lübecker Bucht und dem Südharz keine Verletzten oder Toten gegeben. „Der Schuldvorwurf gegen meinen Mandanten ist somit unbegründet“, sagt Günter Krüger.
Zum Grenzregime der DDR merkt der Verteidiger an, dass alle Maßnahmen getroffen wurden, Personen, die unberechtigt die Grenze überschreiten wollten, zu schützen. „Der Auftrag lautete deshalb eindeutig, Grenzverletzer vor den Minensperren zu stellen, damit sie nicht zu Schaden kommen.“ Außerdem sei organisiert worden, Personen, die trotzdem auf das Minenfeld gerieten, erste Hilfe zu leisten und in die nächste Klinik zu transportieren.
Auf 41 Seiten begründet dann Rechtsanwalt Dr. Frank Osterloh, warum sich auch sein Mandant Horst Gäbler in keiner Weise schuldig gemacht habe. Der Befehl zur Verminung der West-Grenze sei bereits am 14. September 1961 durch den Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, Marschall Konjew ergangen, um die Schnittstelle zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu sichern. „Als Mitglied des Warschauer Paktes hatte die DDR keine Möglichkeit auszubrechen.“
Die Minen seien deutlich sichtbar gewesen, und nur wer wissentlich in Kauf nahm, sich in Lebensgefahr zu begeben, habe die Minenfelder betreten. „Außerdem sind Minen und Selbstschussanlagen immer gegen den äußeren Feind gerichtet gewesen“, sagt der Anwalt des Ex-Politstellvertreters. Und das sei schließlich legitimes Recht jedes souveränen Staates. „Keiner regt sich über die Grenzminen zwischen der Türkei und Griechenland auf.“
Als Frank Osterloh sagt, dass der damalige Justizminister Klaus Kinkel die Gerichte angewiesen habe, mit politischen Prozessen so genanntes DDR-Unrecht aufzuarbeiten, konterte der Vorsitzende Richter: „Ob Kinkel irgendetwas sagt, oder in China fällt ein Sack Reis um – wir sind ein unabhängiges Gericht.“ Dafür erntete Hilmar Rettkowski unverhohlenes Gelächter aus dem Saal.
Der Rechtsanwalt vom ehemaligen Politstellvertreter Frank Boraschke schließt sich dem Antrag seines Berliner Kollegen nicht an. Mit Hinweis auf die Unterstellung, dass die Gerichte auf Anweisung handeln würden, sagte er: „Den Vorwurf, dass die Richter der Bundesrepublik bei Prozessen gegen Hoheitsträger der DDR willkürlich handeln, kann ich nicht teilen.“
Am 5. Tag des Grenzerprozesses verliest der Vorsitzende Richter Hilmar Rettkowski zwei vertrauliche Verschluss-Sachen der DDR-Grenztruppen. Anhand der „Funktionsverteilungspläne“ und der „Führungsgrundsätze“ wollen sich Gericht, Staatsanwältin und Verteidiger ein Bild von den Unterstellungsverhältnissen und den Aufgaben der Grenztruppenbereiche machen.
Um das Verfahren abzukürzen, ordnet der Vorsitzende Richter „Selbstleseverfahren“ an. Das heißt, Rechtsanwälte und Mandanten erhalten in den nächsten vier Wochen die Möglichkeit, in bestimmte Dokumente einzusehen, ohne dass dabei die Hauptverhandlung unterbrochen wird. Bei den Unterlagen handelt es sich um fünf dicke Ordner mit Dienstvorschriften und Ministerbefehlen, unter anderem zum Aufbau der Minensperren und zum Schusswaffengebrauch.
In einer gleich lautenden Stellungnahme weisen die sieben Angeklagten alle Schuldvorwürfe als unbegründet zurück und weisen auf ihr Unterstellungsverhältnis hin: „Der Empfänger eines Befehls war nicht verpflichtet und nicht berechtigt, die Richtigkeit eines Befehls zu überprüfen.“ Gleichzeitig betonten die Angeklagten jedoch, dass jeder „Verletzte