Gorbatschow. Ignaz Lozo
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gorbatschow - Ignaz Lozo страница 13
*
Die damalige Schule heißt jetzt Gymnasium Nr. 1, und die Direktorin Oxana Akulowa ist stolz auf ihren berühmten Absolventen. Sie nimmt sich Zeit für Erläuterungen und eine kleine Führung. Am 30. April 2000 sei Michail Gorbatschow als Präsident a. D. zur Einweihung einer Gedenktafel gekommen, die darüber informiert, dass er hier von 1948 bis 1950 zur Schule ging. 2001 sei er wiedergekommen, dieses Mal mit seinem Freund Hans-Dietrich Genscher, der sich ebenfalls in das Gästebuch der Schule eintrug. Er schrieb: „Glück und Frieden den Schülerinnen und Schülern dieser Schule und ihren Lehrern.“41 Anders als nach dem historischen „Strickjackentreffen“ in Archys mehr als zehn Jahre zuvor, war Genscher nun tatsächlich in die Heimatregion Gorbatschows gekommen, wo er auch das Geburtsdorf seines russischen Freundes besuchte.
Griff nach den Sternen
Michail konzentrierte sich auf die Schule und arbeitete weiter auf dem Feld als Gehilfe seines Vaters. Diese Knochenarbeit sollte sich auszahlen: Sie ebnete ihm im „Reich der Arbeiter und Bauern“ den Weg nach Moskau – ohne dass er das zum Zeitpunkt dieser Schufterei schon wusste. Gorbatschow erinnert sich immer wieder gern daran:
Stalin hatte damals Folgendes verfügt: Die Mähdrescherführer, die bei der Ernte 10 000 Doppelzentner Korn einfahren, sollten den Titel „Held der sozialistischen Arbeit“ bekommen. Die Ernte fiel gut aus. Mein Vater und ich als sein Helfer legten los! Wir arbeiteten zusammen mit den Jakowenkos, ebenfalls ein Vater-Sohn-Gespann. […] Mir machte die Arbeit auf dem Mähdrescher Riesenspaß, und ich konnte ab dem dritten Jahr bereits nach Gehör feststellen, wenn etwas nicht richtig lief. […] Ich habe in den fünf Jahren auf dem Feld viel Staub geschluckt.42
Zusammen mit den Jakowenkos fuhren Vater Sergej und Sohn Michail 19 600 Doppelzentner ein und verfehlten den Helden-Titel damit nur knapp. Doch den Vätern brachte das immerhin den begehrten Lenin-Orden und den Söhnen den „Orden des Roten Arbeitsbanners“ ein. Für Michail Gorbatschow war es die erste gesellschaftliche Auszeichnung, und sie stellte für ihn noch im hohen Alter die wertvollste in seinem Leben dar. Jedenfalls sagte er das und schrieb es auch, wobei er vermutlich den Friedensnobelpreis vergaß, den er gut 40 Jahre später erhielt. „Ja, der Orden des Roten Arbeitsbanners war eine große Überraschung. Und was für eine angenehme. Zuerst die gute Ernte, dann der große Lohn, dann bekamen wir noch Getreide extra und schließlich diese Auszeichnung! In der Schule folgte eine Veranstaltung. Da hielt ich meine erste öffentliche Rede. Ich erzählte, wie schwer es ist, mit einem Mähdrescher zu arbeiten und Getreide anzubauen.“43 Es war diese Auszeichnung für seine Feldarbeit, die ihm als „Dorfjungen“ ohne entsprechende Verbindungen die Zulassung zur angesehensten und begehrtesten Universität im Lande bescherte: zur Lomonossow-Universität in Moskau.
Nach der zehnten Klasse, die er 1950 mit einer Silbermedaille absolvierte, stellte sich für ihn wie für jeden jungen Menschen die Frage, wohin und was weiter?
Meine Entscheidung war: Nach Moskau und nirgendwohin sonst! Nur nach Moskau! Ich schickte Anfragen an mehrere Hochschulen: an die Hochschule für Stahl, an die Hochschule für Wirtschaft – insgesamt waren es fünf oder sechs verschiedene Universitäten. Von allen bekam ich Rückmeldungen, in denen stand, zu welchen Bedingungen was zu machen war. Ich entschied mich für eine Bewerbung an der Fakultät für Rechtswissenschaften an der Lomonossow-Universität. Ich weiß nicht, warum gerade Jura! Vielleicht, weil das Unrecht gegenüber meinem Großvater vor meinen Augen passiert war. Es hatte mich aufgerüttelt. Mir gefiel auch der Posten eines Staatsanwaltes und dessen Bedeutung. Aber daheim hatte ich mich mit niemandem beraten.44
Die Wahl der Fachrichtung wirkt eher beliebig, nur in einem war der 19-jährige Michail fest entschlossen: raus aus dem Dorf! Auch sollte es keine Großstadt in der Nähe sein wie zum Beispiel Rostow am Don – nein: Es musste Moskau sein. Das war ein Griff nach den Sternen für einen jungen Mann aus der tiefen südrussischen Provinz, und es war ein Ausdruck seines Selbstbewusstseins, das später noch während der fast sieben Jahre im Kreml eine große Rolle spielen sollte.
Nicht, dass Gorbatschow mit der kommunistischen Partei in seiner Jugend nichts zu tun gehabt hätte. Im Gegenteil: Wie fast alle war er im Jugendverband Komsomol. Und wie die meisten wollte er in die Kommunistische Partei aufgenommen werden, weshalb er ab 1950 ein sogenannter Anwärter auf die volle Parteimitgliedschaft war. Doch bei der Bewerbung um die Uni-Zulassung konnte er damit nicht punkten, denn das entsprach einem Mindeststandard. Was gab also den Ausschlag? Tatsächlich waren im stolzen Staat der Arbeiter und Bauern Dorfjungen mit der Auszeichnung des Roten Arbeitsbanners eine absolute Seltenheit.
Ich schickte die Bewerbungsunterlagen ab und ging weiter der Feldarbeit mit dem Mähdrescher nach, um Geld zu verdienen. Lange keine Antwort, nichts. Ich hatte bei dem Schreiben vermerkt, dass der Absender das Porto für die Rückantwort bezahlt. Und dann kam sie doch noch! Der Postbote bringt mir einen Brief zum Mähdrescher. Ein Telegramm! Nur eine Zeile, aber was für eine! Wie ein Gedicht! Was da geschrieben stand, klang zeit meines Lebens wie Musik für mich: „Sie sind immatrikuliert – mit Wohnheim.“ Man hatte sogar darauf verzichtet, mich zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen.45
Diese Zusage war zweifellos eine Sternstunde in Gorbatschows Leben. Er hob aufgrund seiner Herkunft den Anteil der echten Arbeiter- und Bauern-Kinder an der Universität, denn viele Studenten waren Städter aus bildungsnahen Schichten oder hatten die richtigen Parteibeziehungen, um an der begehrtesten und wichtigsten Universität des Landes aufgenommen zu werden. Gorbatschow hingegen hatte es mit seinen schulischen Leistungen und dem Arbeitsorden aus eigener Kraft geschafft. Für ihn begann damit etwas Neues und im Sommer 1950 hieß es Abschied nehmen von Priwolnoje.
Ich fuhr also dahin. Und wie ich nach Moskau fuhr! Einmalige Eindrücke! Aus einem Dorf, wo es kein Radio und keinen Strom gab, wo es nichts gab. Es gab keine Straßen, es war die entlegenste Ecke der Welt. Wenn im Herbst der Regen einsetzte, war es kaum mehr möglich, zu uns zu kommen – so viel Matsch. Moskau hat mich einfach erschlagen. Heute ist es lustig, davon zu erzählen. Ich musste erst lernen, U-Bahn zu fahren oder die Rolltreppe zu benutzen. Aus dem Mähdrescher konnte ich während der Fahrt aussteigen, am Rad hinab. Aber hier? Die Lichter der Stadt, die laute Straßenbahn, die einen kaum schlafen lässt. […] Als ich wegzog, um an der Universität in Moskau zu studieren, stand Großvater neben dem Kleinlaster, in dem wir zu zweit oder zu dritt saßen. Alles war schon beladen für unsere Fahrt zur Bahnstation im Gebiet Rostow am Don. Die Station hieß und heißt heute noch Pestschanokopskaja. Ich freute mich, war prima Stimmung, denn bald würde es ja losgehen. Plötzlich bemerke ich Großvater [Pantelej], wie er da steht, auf uns schaut und weint. Für ihn war das wohl eine Art Bilanz seines Lebens.46
Drei Jahre später wird Großvater Pantelej im Alter von 59 Jahren sterben. Doch jetzt kommt erst einmal der Dorfjunge Gorbatschow voller Neugier, Lebenslust und dem Willen, Erfolg im Studium zu haben, in Moskau an, in der Hauptstadt des Weltkommunismus. Die Reise mit dem Zug dorthin war die erste überhaupt in seinem Leben. Er wohnt nun in einem Studentenwohnheim – im ersten Studienjahr mit 22 anderen Menschen in einem Raum, im zweiten gemeinsam mit elf anderen, im dritten Jahr in einem Sechs-Mann-Zimmer – alles entsprechend der sozialistischen Ordnung. Und bald schon wird er hier eine Bekanntschaft machen, die erneut alles verändert. Er lernt die junge Raissa Titarenko kennen, die Liebe seines Lebens.
3. HOCHZEIT IN GELIEHENEN SCHUHEN
Das Studentenwohnheim, in das Michail Gorbatschow in Moskau einzieht, hat mehr Bewohner als ganz Priwolnoje. Es liegt am Flüsschen Jausa,