Gorbatschow. Ignaz Lozo
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gorbatschow - Ignaz Lozo страница 12
5 Gorbatschows Vater Sergej um 1950
Michails Leben bewegte sich nun in drei verschiedenen Welten: In der Schule, auf dem Feld und im zaghaften Privatleben, das damals schon nach dem fast obligatorischen Eintritt in den kommunistischen Jugendverband Komsomol im Herbst 1948 auch politisch war. Die pubertäre Trotzphase hatte er längst hinter sich gelassen und war zu einem Musterschüler aufgestiegen. Er begeisterte sich für Geschichte und Literatur, und die Fächer Mathematik und Physik zogen ihn ebenso an. Als Fremdsprache lernte er Deutsch. Das Wort „Ordnung“ hat sich ihm offensichtlich besonders eingeprägt, denn er warf es Jahrzehnte später als Weltpolitiker gern bei Gesprächen oder Interviews mit Deutschen gelegentlich ein. Sport dagegen lag ihm weniger. In Priwolnoje konnten Schüler nur bis zur achten Klasse die Schule besuchen. Die neunte und zehnte absolvierten sie in der Kreisstadt, falls die Eltern oder Kriegswitwen das Geld dafür aufzubringen vermochten.
In dieser Phase bekamen Sergej Gorbatschow und seine Ehefrau Maria noch mal Nachwuchs: Am 7. September 1947 wird Alexander geboren. Michail hat nun einen 16 Jahre jüngeren Bruder, was der sowjetischen Öffentlichkeit noch in den ersten Jahren der Perestroika nicht bekannt war. So tabuisiert waren selbst banale biografische Angaben über hohe Parteifunktionäre in der von fast manischer Geheimniskrämerei durchdrungenen Sowjetunion zu Zeiten des Kalten Krieges.
*
Eine Generation später stoße ich 2016 bei der Spurensuche im Dorf Priwolnoje mit meinem Kamerateam unerwartet auf Relikte, die aus heutiger Sicht in völlig überflüssiger, fast komischer Weise wie ein Staatsgeheimnis gehütet wurden. Das in den 1970er-Jahren gebaute Steinhaus der Gorbatschows ist verwaist, und vor dem Eingang wucherte es mannshoch. Ein angrenzender Schuppen, vielleicht auch eine ehemalige Behausung oder Anliegerwohnung, ist offen zugänglich. Die Neugierde treibt uns hinein, und wir finden in einem Regal alte Hefte mit Schulnoten. Datiert sind sie auf das Jahr 1961. Sie gehörten Gorbatschows Bruder Alexander, der 2001 an Krebs verstarb. Einen Augenblick überlege ich, die Hefte nach Moskau mitzunehmen, um sie der Gorbatschow-Stiftung zu übergeben. Kamera-Mann Dmitri meint jedoch, es sei besser, alles so zu belassen, wie es ist. Ich stimme ihm zu.
*
Alexander Sergejewitsch Gorbatschow, so sieht es sein Bruder Michail, hatte eine leichtere Kindheit und Jugend als er selbst. „Das wirkte sich auf seinen Charakter und seine Einstellung zum Leben aus. Mir behagte das nicht sonderlich, und ich versuchte, ihn meinen Lebensvorstellungen anzupassen“, räumt er in seinen Memoiren ein. „Doch Saschka [Koseform für Alexander – I.L.] ist sich selbst treu geblieben.“34
In den ersten Lebensjahren von Alexander haben die Eltern mit finanziellen Sorgen zu kämpfen, da vor allem Vater Sergej seinem Sohn Michail eine gute Ausbildung ermöglichen möchte. Alles wurde dafür getan, dass Michail die Oberschule in Molotowskoje besuchen konnte. Diese Stadt mit ihren zahlreichen Namen spiegelt bestens die wechselvolle Zeit der Stalin-Ära und der Terror-Jahre wider.
Molotowskoje, die Ende der 1940er-Jahre, als Michail Gorbatschow dort hinzog, etwa 10 000 Einwohner zählte, hieß ursprünglich Medweschje. 1935 verfügte Stalin, sie solle Jewdokimowskoje heißen – zu Ehren seines Mitstreiters Jefim Jewdokimow. Dieser war ein brutaler Verfolger der Bauern und organisierte zuvor im Russischen Bürgerkrieg Massenerschießungen auf der Krim. Vor allem aber war er ein enger Vertrauter vom Moskauer Geheimdienstchef Jeschow, der Stalins Großen Terror und die sogenannten „Großen Säuberungen“ landesweit umsetzte. 1938 fiel Jewdokimow jedoch bei Stalin in Ungnade und entsprechend wurde Jewdokimowskoje in Molotowskoje umbenannt – jetzt also zu Ehren von Wjatscheslaw Molotow. Und damit nicht genug: 1957 verfügte der neue Kreml-Chef Chruschtschow, Molotowskoje solle fortan Krasnogwardejskoje heißen – ein Name zu Ehren aller Rotgardisten. Der Grund für diese neuerliche Umbenennung war, dass Molotow einer Dreier-Gruppe angehörte, die Chruschtschow stürzen wollte.
Gorbatschow war 17 Jahre alt, als er in der Spät-Stalin-Ära in diese Kreisstadt zog, wo der Vater einen Schlafplatz für ihn gemietet hatte. Am Wochenende ging er oft die 20 Kilometer zu Fuß zu seinen Eltern und 20 wieder zurück, um Lebensmittel zu holen. Dennoch war das Leben freier, niemand kontrollierte mehr seine Hausaufgaben.
In seinem Heimatdorf wohnte Nadezhda Jefimowna Litowtschenka (1933–2007), Schwester seiner Klassenkameradin Raissa und Tochter des Kolchos-Vorsitzenden Jefim Litowtschenko. Mit ihr hatte er nach Aussage von Raissa seine erste Romanze überhaupt.35 Michail und ihre inzwischen verstorbene Schwester Nadezhda hätten damals Fotos ausgetauscht und seien eine Zeit lang ein Paar gewesen. Doch sehr verliebt war Michail Gorbatschow offenbar nicht, der den Erzählungen seiner Klassenkameradin über das Verhältnis mit ihrer Schwester zwar nicht widerspricht, allerdings bekennt, er könne sich nicht mehr recht erinnern.36
Ganz anders verhielt es sich im Fall von Julia Karagodina. Sie hatte es dem jungen Gorbatschow wirklich angetan. Die beiden lernten sich in der weiterführenden Schule in Molotowskoje kennen, als er eines Tages zu einer Schüler-Theatergruppe ging. Einer sowjetischen Zeitschrift erzählte Julia Karagodina 1991 aus jener Zeit Ende der 1940er-Jahre und von ihrem ersten Eindruck: „Es war nicht so, dass er mir anfangs nicht gefallen hätte, doch er schien irgendwie übermäßig energisch, resolut zu sein. Ich nahm aber sein besonderes Interesse an mir wahr. Damals war ich in der zehnten Klasse und Michail in der neunten. Außerdem hatte ich schon einen Freund, der später auch mein Mann wurde: – Wolodja [Koseform für Wladimir – I.L.] Tschernyschew.“37
Diese Laien-Theatergruppe war erfolgreich und hatte zahlreiche Auftritte in der Kreisstadt und in den umliegenden Dörfern. Anerkennung, Applaus und Blumen waren ihr sicher. Zum Repertoire gehörte Lermontows Maskerade, im Original ein Versdrama in vier Akten; außerdem führte die Gruppe das Märchenspiel Snegurotschka auf, zu Deutsch: Schneemädchen. Dieses Stück von Alexander Ostrowski, einem der bekanntesten russischen Dramatiker des 19. Jahrhunderts, hat nichts von unserem Schneewittchen. Im russischen Märchenspiel verliebt sich das Schneemädchen, Tochter von Väterchen Frost und der Frühlingsgöttin, in einen Jüngling, den sie heiraten will. Julia Karagodina spielte die Hauptrolle, den Jüngling mimte Michail Gorbatschow. Dass die beiden in ihren jeweiligen Schulklassen zu den Besten gehörten, brachte sie ebenfalls einander näher. Julia Karagodina erklärt im Zeitschrifteninterview für damalige sowjetische Verhältnisse ziemlich offen: „Wir hatten natürlich nicht so eine Beziehung wie das heute bei jungen Leuten üblich ist. Sie verstehen, wovon ich rede. Damals war alles anders. Sich nur leicht zu berühren oder sich zu streifen, war schon etwas ganz Besonderes. Unsere Freundschaft habe ich als etwas wirklich Großes und Reines in Erinnerung.“38
Auch wie resolut Michail Gorbatschow gegenüber den Lehrern und der Schuldirektorin sein konnte, schildert Julia Karagodina eindrücklich: „Er war wahrscheinlich der Einzige unter uns Schülern, der es wagte, den Lehrern auch mal zu widersprechen. Ich wusste, dass er von seinem Platz aufstehen und der Geschichtslehrerin sagen konnte: ‚Sie liegen falsch. Die Fakten sind diese und jene.‘“39
Lang währte das Verhältnis zwischen Julia und Michail nicht: Da sie ein Jahr früher als er die Schule beendete, verließ sie die Kreisstadt. Einige Male besuchte er sie noch. Michail mochte verliebt gewesen sein, doch in der damaligen Zeit