Kafkas letzter Prozess. Benjamin Balint

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Kafkas letzter Prozess - Benjamin Balint

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von einem noch unbekannten, aber genialen Schriftsteller, über dessen letzten Wunsch sich sein bester Freund hinwegsetzte; von dessen Flucht vor den nationalsozialistischen Besatzern, kurz bevor sich die Tore Europas schlossen; von der Liebe zweier Exilanten, die in Tel Aviv gestrandet waren; von zwei Ländern, deren wie besessen betriebene Vergangenheitsbewältigung an diesem Tag vor dem Obersten Gericht offen zutage trat. Der Prozess warf aber vor allem eine hochbrisante Frage auf: Wem gehört Kafka?

      Eva, die sich nun also im Auge des Sturms wiederfand, war am 30. April 1934 in Prag zur Welt gekommen, ein Jahrzehnt nachdem Kafka auf dem Neuen Jüdischen Friedhof der Stadt beigesetzt worden war. Als sie mit ihren Eltern Ester (Ilse) und Otto Hoffe und ihrer älteren Schwester Ruth aus dem besetzten Prag floh, war sie fünf Jahre alt. Sie zeigte mir Fotografien ihrer Mutter als junger Schönheit in Prag mit ihrer Deutschen Dogge Tasso, benannt nach dem italienischen Dichter des 16. Jahrhunderts, der das berühmte Versepos La Gerusalemme liberata (Befreites Jerusalem) geschrieben hatte. »Eine meiner Katzen habe ich auch Tasso genannt«, sagte Eva Hoffe.

      Nach ihrer Ankunft in Palästina besuchte Eva zunächst die Schule in Gan Schmuel, einem Kibbuz im Norden des Landes nahe der Stadt Chadera, und anschließend das landwirtschaftliche Internat im zentralisraelischen Jugenddorf Ben Schemen. Dort nahm ihre Lieblingslehrerin, die Künstlerin Naomi Smilansky, das Mädchen unter ihre Fittiche. Doch Evas Zeit in Ben Schemen war von Einsamkeit überschattet. »Ich litt unter schrecklichem Heimweh und weinte fast jede Nacht«, sagte sie. Als 1948 nach dem Ausbruch des Israelischen Unabhängigkeitskriegs Truppen der Arabischen Legion Ben Schemen belagerten, wurden die Schüler in gepanzerten Bussen evakuiert. Eva Hoffe schloss später ihre schulische Ausbildung in der progressiven Tel Aviver Eliteschule Tichon Hadasch ab. Dort förderte sie Rektor Toni Halle, ein gebürtiger Deutscher, der seit seiner Studienzeit mit Gershom Scholem befreundet war. Eva flüchtete sich damals gern in Bücher. Ihre Mutter schrieb im Juni 1950, als Eva sechzehn Jahre alt war, an Dora Diamant: »Sie liest in jeder freien Minute und wird sich gewiss in den Ferien hauptsächlich von Buchfutter ernähren.«3

      Nach dem Krieg trat Eva Hoffe in eine Nachal-Truppe der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte ein. (Solche Einheiten unter dem Kommando des Bildungs- und Jugendcorps verbinden ehrenamtliches soziales Engagement, gemeinnützige oder landwirtschaftliche Arbeit und Militärdienst.) Anschließend nahm sie ein musikwissenschaftliches Studium in Zürich auf. Noch vor dem Abschluss kehrte sie jedoch 1966 nach Tel Aviv zurück, auch, um beruhigend auf ihren Vater Otto einzuwirken, den der Gedanke an mögliche Kampfhandlungen zwischen Israel und den benachbarten arabischen Staaten quälte. »Er litt unter schrecklicher Kriegsangst«, erzählte sie. »Er fürchtete, sie würden uns abschlachten.«

      Im Sommer 1967 kam es zum Sechstagekrieg. An jedem dieser sechs Tage ging Eva ins Café Kassit in der Dizengoff-Straße, setzte sich an einen der winzigen Tische auf dem Gehweg und trank einen Espresso, über sich die sechs Wandbilder mit marionettenartigen Harlekinen und Musikern, die Jossel Bergner auf die Straßenfassade des Cafés gemalt hatte. Im Kassit tauschten langhaarige Künstler, ungepflegte Intellektuelle, Straßenhändler und hohe Militärs wie Mosche Dajan die neusten Gerüchte aus. (Major Ariel Scharon, der spätere Ministerpräsident, wies einmal einen Unteroffizier mit den Worten zurecht: »Ihr sitzt da im Kassit und quatscht mit Journalisten der Haolam Haseh über unsere Operationen.«) Alles, was Rang und Namen hatte, steckte in dem Café »die Köpfe zusammen; und schon Reibung allein erzeugt Inspiration«, erzählte später der Stammgast Uri Avnery, damals Herausgeber der Haolam Haseh. Jeden Tag brachte Eva aufgeschnappte Gesprächsfetzen, Neuigkeiten vom Kriegsverlauf, mit nach Hause. Ihr Vater quittierte ihre Berichte über israelische Siege mit Unglauben.4

      Nach dem Sechstagekrieg gab Eva Erst- und Zweitklässlern Musikunterricht und fand große Freude an den Improvisationen der Kinder. Im folgenden Jahr jedoch erlitt sie einen doppelten Verlust: Innerhalb von fünf Monaten starben ihr Vater und der Schriftsteller Max Brod, Emigrant aus Prag und für sie eine Vaterfigur. Das Musizieren und der Unterricht machten ihr fortan keinen Spaß mehr.

      Während Eva Hoffe noch trauerte, empfahl sie der israelische Dichter und Liedermacher Chaim Chefer, ebenfalls Stammgast im Café Kassit, für eine Anstellung bei der israelischen Fluggesellschaft El Al. Drei Jahrzehnte lang gehörte sie dem Bodenpersonal an. »Flugbegleiterin wollte ich nicht werden«, erzählte sie, »weil ich bei meiner Mutter sein wollte.« Stattdessen lauschte sie mit fast kindlicher Begeisterung dem Brüllen der Flugzeugtriebwerke und sah den Bodenlotsen mit ihren reflektierenden Sicherheitswesten, dem Gehörschutz und den Leuchtkellen beim Einweisen der Flugzeuge zu. 1999 trat sie mit 65 Jahren in den Ruhestand.

      In all den Jahren bei der El Al verspürte Eva nie das Verlangen, nach Deutschland zu fliegen. »Ich konnte nicht vergeben«, sagte sie. Auch eine Heirat kam nicht infrage. »Als ich mitbekam, wie beleidigend Felix Weltsch [ein Freund Kafkas, der mit Max Brod von Prag nach Palästina geflohen war] über seine Frau Irma sprach, wusste ich, dass ich nicht heiraten wollte.« Lieber lebte sie in einer engen Wohnung in der Spinoza-Straße mit ihrer Mutter Ester und ihren Katzen in einer Art Symbiose.

      Eva Hoffe bewegte sich zwar in den intellektuellen Kreisen von Tel Aviv, in denen auch ihre Freunde verkehrten, der in Berlin geborene hebräische Dichter Natan Sach und der Künstler Menashe Kadishman, sah sich aber nie als Intellektuelle. Mir gestand sie, dass sie nicht viele von Brods Büchern gelesen habe. Eva Hoffe hatte keine Kinder. Menschliche Nähe fand sie in einem Kreis ergebener Freundinnen, die sie vergötterten. Drei von ihnen leisteten ihr nun im Obersten Gerichtshof in einer Nische der Eingangshalle vor Beginn der Verhandlung Gesellschaft. »Egal, was passiert«, warnte sie die Freundin mit der Zeitung, »sag kein Wort; keine Ausbrüche.« Eva nickte und kleidete ihren Missmut in die Worte eines anderen. »Wenn Max Brod noch lebte, würde er vor Gericht treten und sagen: ›Jetzt Schluss damit!‹«, zitierte sie ihn auf Deutsch.

      Eine israelische Romanautorin vertraute mir einmal an, für sie sei Eva Hoffe die »Witwe von Kafkas Gespenst«. Eva, verfolgt von der Angst vor Enterbung, hatte dessen Verzweiflung über die Undurchsichtigkeit der Justiz übernommen. In Kafkas unvollendetem Roman Der Prozess, nach seinem Tod von Max Brod bearbeitet und herausgegeben, sagt der Onkel zu Josef K.: »Wenn man dich ansieht möchte man fast dem Sprichwort glauben: ›Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben‹.«5 Ähnlich verzweifelt war Eva. »Wenn das ein Tauziehen wäre, hätte ich keine Chance«, sagte sie. »Ich kämpfe gegen ungeheuer mächtige Gegner, ungeheuer mächtig.« Sie meinte den Staat Israel, der geltend machte, die Dokumente, die ihre Mutter von Kafkas bestem Freund geerbt hatte, gehörten nicht ihr, sondern der Nationalbibliothek in Jerusalem. Und nicht nur um die eigentliche Erbschaft ging es hier. Noch zu Lebzeiten hatte Max Brod Ester Hoffe einige Kafka-Manuskripte geschenkt, die sie wiederum an ihre Töchter weitergegeben hatte. Jahrzehnte nach Brods Tod wurde nun über die Rechtmäßigkeit sowohl der Erbschaft als auch der Schenkung entschieden.

      Die Stimmen der Beteiligten aus der vorangegangenen Verhandlung verhallten. Eva machte sich mit bleichem Gesicht, aber wachen Auges auf den Weg in den Gerichtssaal. »Wenn Sie mich fragen«, sagte sie, während sie die schwere Tür zum Saal aufdrückte, »sind die Wörter Gerechtigkeit und Anstand aus dem Wörterbuch gestrichen.«

      In Der Prozess sind die Gerichtssäle nur schwach beleuchtet. Der Raum in Jerusalem dagegen erinnert an eine hohe Kapelle, deren schmucklose weiße Wände im Tageslicht erstrahlen. Glanz und Pomp sucht man hier vergebens. Das rechteckige Gebäude des Obersten Gerichtshofs, dessen Bau von der Londoner Philanthropin Dorothy de Rothschild beauftragt wurde, ist mit Jerusalem-Stein verkleidet. Auf dem Dach erhebt sich eine kupferverkleidete Pyramide, inspiriert vom vorzeitlichen Grab des Propheten Zacharias, das östlich von Jerusalem aus dem Felsgestein des Kidrontals gehauen wurde.

      An einem halbrunden Tisch saßen neun Anwälte in schwarzer Robe. Sie sollten den drei nicht unbedingt gleich starken Parteien in diesem Rechtsstreit eine Stimme geben: der Israelischen Nationalbibliothek (die den Prozess ins Rollen gebracht hatte und nun die Interessen des Staates Israel vertrat – sozusagen

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