Im Schatten der Flügel. Hansjörg Schertenleib
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Die Frau kam aus dem Gebäude von Norwood Lobster gerannt, wobei sie beide Hände in die Höhe streckte, als wolle sie etwas aufhalten, über das sie keinerlei Macht besaß; der Mann schob das Handy in die Brusttasche seines Hemdes, ging auf sie zu, nahm sie in den Arm und führte sie vom Angeschossenen weg. Corinna kannte das Heulen, in das die Frau nach wenigen Sekunden ausbrach. Die diffizilen und belastenden Besuche bei Angehörigen von Mord- und Unfallopfern hatte sie jeweils so lange wie möglich hinausgezögert, um ihnen, wie sie sich einredete, noch einige Minuten des Friedens und der Ruhe zu schenken und sie noch etwas im Glauben zu lassen, alles sei wie vorher, nichts sei geschehen. Dabei hatte sie sich nur Zeit gelassen, um sich selbst zu schützen, weil sie sich vor den Reaktionen fürchtete. Sie war absichtlich Umwege gefahren und um jedes Rotlicht dankbar gewesen. Einige Eindrücke dieser Besuche mussten sich ihr unbewusst eingeprägt haben, jedenfalls erschienen sie immer wieder vor ihr, zum Beispiel wenn sie nachts im Bett lag und nicht einschlafen konnte: ein Windspiel aus Papierengeln, das sich friedlich drehte; ein Lederhut auf der Ablage einer Garderobe, in dessen Band eine zerzauste Vogelfeder steckte; ein leuchtend blaues Dreirad am Ende eines dämmrigen Flures; ein Poster von Sarajevo an einer Wand. Bevor sie an einer Tür klingelte, hatte sie sich jeweils bemüht, ein Gesicht aufzusetzen, das signalisierte, ich bin auch ein Mensch, nicht nur eine Kriminalpolizistin, ein Mensch, der mitfühlt und weiß, was Trauer bedeutet. »Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass …« Hoffnungsvolle Fragen, angsterfüllte Blicke oder Tränen durften sie so wenig aus der Fassung bringen wie die Geräusche, die nur Menschen in äußerster Not von sich gaben. Sie musste sachlich bleiben, Kompetenz und Ruhe ausstrahlen, ohne dabei kalt, distanziert zu wirken. Das Wort, das sie in diesen Momenten zu fürchten lernte und bald regelrecht hasste, lautete aber. »Aber sie hat doch grade angerufen!« »Aber ich hab doch das Gulasch gekocht, das er liebt!« »Aber wir fahren doch übernächste Woche in die Toskana!«
Die Frau auf dem Werkareal befreite sich entschieden aus dem Arm des Mannes, schimpfte theatralisch und ging dann hinter dem Kühllaster auf und ab. Auch das kannte Corinna: Manche Angehörige hatten sie für das, was ihren Liebsten widerfahren war, verantwortlich gemacht. Sie war angeschrien, beschimpft und einmal gar angespuckt worden. Sie war die Botin der Zerstörung und zerstörte damit selbst.
In der rasch fortschreitenden Dämmerung wurde der Wald jenseits der Rockledge Road zum undurchdringlichen Raum, in dem die Blätter der Laubbäume, die nach den ersten Frostnächten gelb und rot entflammt waren, matt leuchteten. Hier im mittleren Maine würde die Intensität der Laubverfärbung etwa in zwei Wochen am stärksten, der Höhepunkt des Indian Summer erreicht sein.
Corinna ging ins Haus zurück, schloss die Glastür zum Deck und folgte der Katze, die um ihre Beine strich und ihr aufgeregt miauend in die Küche vorauslief. Es war verblüffend einfach gewesen, sie an Trockenfutter zu gewöhnen, wie ihr ihre Freundin Maggie geraten hatte, deren Mutter seit vielen Jahren Maine-Coon-Katzen hielt. Sie schüttete eine Handvoll Futter in ein Schälchen und sah zu, wie sich die Katze gierig darüber hermachte. Dann ging sie in den Flur hinüber, hob das Dach vom Katzenklo und suchte mit dem Plastikschäufelchen die vom Urin verklumpten Streubrocken und die Kotwürste heraus, trug sie ins Gästebad, kippte sie in die Toilette und spülte. Die Katze saß auf der Schwelle der Küchentür und sah ihr neugierig zu. Obwohl Corinna den Atem anhielt und durch den Mund atmete, stieg ihr der Gestank des Katzenklos in die Nase und schlug eine Brücke in die Vergangenheit, der sie in letzter Zeit erfolgreich aus dem Weg gegangen war. Sie hatte lange nicht mehr an den Vierfachmord und den Moment gedacht, in dem sie sich über die in der Hitze verkrümmten, verbrannten Leichen beugte, hatte den Geruch, den sie so lange nicht wieder losgeworden war, endlich nicht mehr in der Nase gehabt. Stattdessen hatte sie gelegentlich an die Situationen gedacht, in denen sie im Dienst Fehler begangen hatte. Den Vorfall mit dem Mann, der zum wiederholten Mal wegen häuslicher Gewalt gegen seine Frau verhaftet worden war und den sie außerhalb ihrer Dienstzeit in der Altstadt Aaraus mit einem Faustschlag niedergestreckt hatte, betrachtete sie mittlerweile nicht mehr als Fehler, obwohl sie deswegen letztlich ihre Stelle verloren hatte. Seine Beleidigungen und die verächtlichen Blicke, mit denen er sie vor seinen Freunden taxierte, hatten sie dazu verleitet, ihm sein Bier über den Kopf zu schütten und ihn mit der Faust niederzuschlagen. Einen Schläger durfte man nicht herausfordern und nicht mit sich selbst konfrontieren, das wusste sie. Trotzdem hatte sie es getan, und er hatte bekommen, was er verdiente. Sie hatte richtig gehandelt.
Im Haus war es mittlerweile so dunkel, dass sie in die Küche trat und das Licht über dem Herd anmachte. Dabei sah sie auf die Uhr an der Wand: 18:09 Uhr. Wo blieben Ambulanz und Streifenwagen? Der Schuss war vor sechzehn Minuten gefallen. Sie war um 19 Uhr mit Jake zum Abendessen in seinem Haus in Bayside verabredet, sie musste sich beeilen. Sie lief ins Wohnzimmer hinüber, um dort die Rouleaus vor zwei bestimmten Fenstern ganz und vor einem anderen drei Viertel nach unten zu ziehen. Gewohnheiten oder vielmehr Rituale, die sie vor Jake verbarg, weil ihr verstorbener Mann Michael sie als zwanghaft, manchmal gar als krankhaft bezeichnet hatte. Sie war im Begriff, die beiden Nachtlichter wie üblich beim Einnachten im Wohnzimmer einzustecken, als sie zwei Sirenen hörte. Gleichzeitig fing ihr Handy an zu klingeln. Sie schob die Glastür zur Veranda auf, sah, wie die Katze ins Freie witschte und im Garten verschwand, trat hinaus und hob ab, erstaunt, wie kühl es in wenigen Minuten geworden war.
»Muscheln sind dein Lieblingsessen, nicht?«
Am Telefon klang Jake Blakes Stimme noch ruhiger und gelassener als sonst.
»Wolltest du mich nicht überraschen, Jake?«
»Hast du zufällig Zitronen im Haus?«
»Aber die Muscheln muss ich nicht auch mitbringen?«
»Wer sagt, ich koche Muscheln? Bringst du Zitronen?«
»Stets zu Ihren Diensten, Sir!«
»Wann fährst du los, Co?«
»In ein paar Minuten.«
»Was ist denn für ein Heidenlärm bei dir?«
Um das Gellen der Sirenen auszusperren, trat sie ins Cottage zurück und schloss die Glastür hinter sich.
»Die Idioten von Norwood sind mal wieder besonders fleißig.«
Weshalb erzählte sie Jake nicht vom Schuss und vom Mann am Boden? Log man, wenn man etwas verschwieg?
»Fahr vorsichtig, ja? Und denkst du bitte an die Zitronen?«
»Mach ich, Jake. Ich freu mich.«
»Ich freu mich auch. Bis gleich. Co.«
Der Satz »Liebe hat oft etwas Zerstörerisches«, den Jake ganz am Anfang ihrer Beziehung gesagt hatte, beiläufig und leichthin, als besitze er kein Gewicht, fiel ihr ein. Bis jetzt hatte sie es nicht übers Herz gebracht, ihn zu fragen, was er damit eigentlich meinte, obwohl er ihr häufig durch den Kopf ging und eine Angst einjagte, die sie nicht verstand. Außer als Warnung.
Sie lief in ihr Schlafzimmer in der oberen Etage; sie wollte die schwarze Jeans anziehen, die Jake gefiel und den Pulli, den er ihr bei Josephine an der Elm Street in Camden gekauft hatte. Und sie musste ihre Reisetasche holen, die gepackt im Schrank stand. Noch war sie nicht bereit, ihre Sachen in seinem Haus zu lassen, nicht einmal die Schminksachen oder ihre Zahnbürste.
2 Silberfeuerzeug
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