Im Schatten der Flügel. Hansjörg Schertenleib

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Im Schatten der Flügel - Hansjörg Schertenleib страница 6

Im Schatten der Flügel - Hansjörg Schertenleib Ein Maine-Krimi

Скачать книгу

Musiker besucht, für den ich eine Zwölfsaitige baute.«

      »Berühmt?«

      »Ein Studiomusiker und großartiger Gitarrist, den keiner kennt. Er hat mir erklärt, was für ihn die wichtigsten Werte sind: Mut. Tapferkeit. Und Sanftheit. Mutig alles in die Hand nehmen, tapfer das Scheitern ertragen und sanft sein zu Mensch und Tier. Ein halbes Jahr später war er tot. Herzinfarkt.«

      Auf einen Schlag wurde es hell im Zimmer, und sie hoben gleichzeitig die Köpfe und sahen aus dem Fenster: Die Morgensonne stand jetzt hoch genug, um das Wasser zu treffen und in eine grell blitzende Fläche zu verwandeln.

      »Hungrig?«, fragte Jake.

      »Allerdings.«

      Sie strampelte die Decke zum Fußende des Bettes, setzte sich auf ihn und zog sich das T-Shirt über den Kopf.

      Kurz nach zehn traten sie aus Jakes Cottage; sie hatten gefrühstückt, nun wollte er an die Arbeit: Die Gitarre für einen Musiker aus Boston musste fertig werden. Sie umarmten und küssten sich im dichten Nieselregen vor der Werkstatttür und vereinbarten, abends zu telefonieren.

      Im knöchelhohen Gras der Wiese neben ihrem Auto lag ein Ast, geschält von Wind und Wetter, dessen eigenartige Form ihr gefiel. Als sie sich danach bückte, fing es sturzbachartig an zu regnen, und sie ließ den Ast liegen und setzte sich ins Auto, ohne den Motor zu starten, um mit dem Geräusch des Regens auf dem Dach alleine zu sein. Doch sie musste den Ast mitnehmen, er passte in eines ihrer Windspiele, die der Grasshopper Shop in Rockland zu ihrer Überraschung in sein Sortiment aufgenommen hatte. Sie fädelte papierdünne Bruchstücke von Wespennestern, Bündel von Schafgarbe, getrockneten Seetang, Zweige, Äste, Muscheln und Treibholz auf dünnen Draht.

      Zwei Vögel strichen dicht über die Baumwipfel auf der anderen Seite der Straße, Schwinge an Schwinge, Saatkrähen, wie sie vermutete. Schmale, vorgeschichtliche Schatten unter dem Regenhimmel, die ohne einen Ton ins Landesinnere flogen.

      4 Auge um Auge

      Leah Tucker fuhr ihren El Monte vorsichtig an den äußersten Rand des Grundstückes ihres Sohnes J, machte den Motor aus und blieb am Steuer sitzen, ohne sich zu rühren. Sie war müde, denn sie hatte schlecht und nur oberflächlich geschlafen.

      Sie war vor wenigen Tagen aus New Hampshire angereist, wo sie zwei Wochen im Fahrgeschäft des Vergnügungsparkes Story Land gearbeitet hatte, aber das betrunkene Gegröle ihres Sohnes und seiner Kumpel und der monotone Death-Metal, den sie hörten, gingen ihr bereits so sehr auf die Nerven, dass sie darüber nachgedacht hatte, früher aus Maine abzureisen, statt wie geplant bis Dezember auf dem Grundstück ihres Sohnes stehen zu bleiben, wo sie gratis Strom beziehen und ihre beiden Wassertanks auffüllen konnte. Im Dezember würde sie wie schon seit vier Jahren zum »Amazombie« werden und in Campellsville in Kentucky im Amazon-Warenlager arbeiten. Danach würde sie nach Quartzside in Arizona fahren, um die Wintermonate wie gewohnt im Wohnmobilpark Coyote Flat zu verbringen. In Quartzside gab es ein Kaugummimuseum mit Kaugummis aus aller Welt, vielleicht schaffte sie es diesmal endlich, es zu besuchen.

      Hoffentlich konnte sie am neuen Standplatz am Rand des Grundstückes besser schlafen und brauchte nicht abzureisen; sie war ausgelaugt und auf die Erholung vor der anstrengenden Arbeit bei Amazon angewiesen. Die Erde unter der mageren Grasnarbe war fest und trocken, die Gefahr, dass ihr schweres Mobil einsank und festsaß, selbst bei heftigem Regen, gering. Sie blieb hinter dem Steuer sitzen und achtete angestrengt darauf, ob der Lärm aus dem Haus hier weniger gut zu hören war. Während sie lauschte, ertastete sie eine einzelne Eichel in der Tasche ihres Parkas, die in ihrem Becher steckte, und erinnerte sich an den Satz ihres Vaters, den er jedes Jahr zum Besten gegeben hatte: »Jede Eichel passt nur in ihren eigenen Becher, in keinen anderen, stellt euch vor, Mädels!«

      Was wohl aus ihrer Schwester Roxanne geworden war? Als sie vor neun Jahren das letzte Mal in einem staubigen Kaff in New Mexico ein paar Tage zusammen verbrachten, hatten sie sich nur in den Haaren gelegen und festgestellt, dass sie sich nichts zu sagen hatten und sich eigentlich nicht mochten. Roxanne hatte in einem Striplokal an der Bar gearbeitet und jede Nacht einen anderen Mann in ihre Wohnung abgeschleppt, in der die Klimaanlage kaum für Abkühlung sorgte, abgekämpfte zynische Kerle, die sie mit misstrauischen Blicken musterten.

      Sollte sie das Fenster nach unten drehen, um den Lärmpegel zu prüfen? Sie nahm die Eichel aus der Parkatasche, musste sie aber dicht vors Gesicht halten, um sie sich genau anzusehen, weil die Lesebrille auf dem Esstisch ihres Campers lag und sie zu erschöpft war, sie zu holen. Wie sie nicht anders erwartet hatte, war das Haus ihres Sohnes schmutzig und in schlechtem Zustand. Auch um den Garten hatte er sich offenbar lange nicht gekümmert: Das Gras war an mehreren Stellen von offenen Feuerstellen verbrannt und ansonsten ungemäht, die Hecken hatte er bestimmt noch nie zurechtgeschnitten. In den Büschen, die den hinteren Teil seines Landstückes begrenzten, hing Abfall, das Dachgestänge der Hollywoodschaukel war gebrochen, das Stoffdach hing schief über der Sitzfläche und war wie ein Fangnetz mit Blättern umstehender Bäume gefüllt.

      Seit sie in Vermont Himbeeren gepflückt hatte, taten ihr die Kniegelenke und Unterarme weh, und sie kam nur mit Mühe aus dem hydraulischen Fahrersessel hoch. Im Wohnbereich öffnete sie den Kühlschrank, aber es war keine einzige Flasche Budweiser mehr da. Sie würde morgen früh für einen Großeinkauf zu Walmart fahren und danach in einem der vielen Lokale in Rockland einen Cappuccino trinken. Auch das Frostfutter für ihre Königspython Slash ging zur Neige; sie musste dringend Nachschub im Internet bestellen. Es war aufwendig gewesen, das große Terrarium zwischen Küchenkombination und Sitznische in die Wand einpassen zu lassen; sie hatte das sechsjährige Schlangenweibchen, mittlerweile war es beinah zwei Meter lang und annähernd drei Kilogramm schwer, vor fünf Jahren bei einem Reptilienhändler in Texas gekauft, den Ford Chevrolet El Monte besaß sie seit dreieinhalb Jahren.

      Seit die Schlange ausgewachsen war, war sie ihr manchmal unheimlich, und sie war froh, schlief sie im Alkoven über der Fahrerkabine, weit weg vom Terrarium, das sie ab und zu zusätzlich mit einem Tuch verhängte, um die Python nicht sehen zu müssen.

      Sie war hungrig, aber zu träge, um zu kochen, kämpfte sich aus ihrem hydraulischen Fahrersitz, riss eine Familienpackung Chips auf, stellte Mac and Cheese in die Mikrowelle und öffnete den Weißwein, den sie bei einer Party ihres Sohnes hatte mitgehen lassen. Ihr Fernseher hatte keinen Empfang, und sie ging ihre DVD-Sammlung durch, obwohl sie die meisten Filme schon so oft gesehen hatte, dass sie viele Dialoge auswendig mitsprechen konnte. Sie entschied sich für Out of The Furnace mit ihrem Lieblingsschauspieler Woody Harrelson, schaltete die neue Lavalampe an, drehte alle anderen Lichter aus und machte es sich mit den Käsemakkaroni, den Chips und dem Wein auf dem Sofa bequem und startete den Film.

      5 Ein Detective mit Gipsfuß

      Detective Robinson hatte einen Tick, der Corinna Holder bei seinem ersten Besuch nicht aufgefallen war: Vor jeder Frage zuckte er mit den Augen, ließ seinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen und sah dann für einen Moment abwesend in die Ferne. Damals hatte er sie befragt, weil sie Norman Dunbars Leiche gefunden hatte, heute wollte er wissen, ob sie den Schuss gehört hatte und was ihr aufgefallen war. Während er zuhörte, zeichnete er mit dem Zeigefinger Spiralen auf das rechte Bein seiner beigen Stoffhose. Seine Nase war so markant, dass sie einen Schatten auf seine Kinnpartie warf.

      »Das Motorrad fuhr Richtung Norden. Richtig?«

      »Wie gesagt, ja.«

      »Wieso vermuten Sie, dass der Schuss von einem Gewehr und nicht von einer Pistole abgegeben worden ist?«

      Seine blaue Krawatte schillerte, als bestehe sie aus

Скачать книгу