Im Schatten der Flügel. Hansjörg Schertenleib

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Im Schatten der Flügel - Hansjörg Schertenleib Ein Maine-Krimi

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sicher, dass er angeschossen wurde?«

      »Ganz sicher. Wieso sollten sie sonst alle Wagen kontrollieren, die die Insel verließen?«

      Sie hatte ihm ausführlich beschrieben, was am vergangenen Abend auf Spruce Head Island passiert war, und die Reifenspuren und das Loch im Kies erwähnt, das ziemlich sicher von einem Motorradständer stammte.

      »In der Schweiz ist es bestimmt nicht so einfach, an eine Schusswaffe zu kommen wie bei uns, richtig?«

      »Allzu schwierig ist es nicht. An die 800000 sind registriert, dabei gibt es geschätzte drei Millionen. Hast du eine Waffe?«

      »Früher hatte ich eine, ja.«

      »Und heute?«

      »Nicht mehr.«

      »Eine Pistole oder ein Gewehr?«

      »Ist doch egal. Und du, Co?«

      »Ich hab meine Pistole abgegeben, als ich den Dienst quittierte.«

      Sie fragte sich, ob sie ihm erzählen solle, wie gern und gut sie geschossen hatte, war sich aber nicht sicher, was das für ein Licht auf sie warf, und verschwieg es.

      »Meine Tochter Patti Lee hat uns zu Thanksgiving eingeladen.«

      »Die Ärztin?«, fragte sie.

      »Amy ist die Ärztin. Die Jüngere. Patti Lee ist Violinistin.«

      »In welchem Orchester spielt sie noch mal?«

      »Boston Symphony Orchestra.«

      Er strich ihr mit dem Zeigefinger über die Nasenkuppe und die Brauen, als wolle er sich versichern, dass sie tatsächlich neben ihm in seinem Bett lag.

      »Wie alt ist Patti Lee?«

      »Vierunddreißig. Sie möchte dich gern kennenlernen. Begleitest du mich?«

      »Gerne, Jake. Wann ist Thanksgiving?«

      »Am letzten Donnerstag im November. Am 28.«

      Ihr Sohn Thomas und seine schwangere Freundin Charlotte hatten im Juli zwei Wochen Ferien in Maine gemacht, und sie waren zwei Mal mit Jake zum Abendessen zusammengekommen; an einem wolkenlosen Tag waren sie frühmorgens mit dem Segelboot eines seiner Freunde in See gestochen und hatten einen unbeschwerten Tag auf der Künstlerinsel Moneghan verbracht.

      »Als Kind hat Tom es geliebt, Löcher zu graben.«

      »Das tun alle Jungen.«

      »Er war fasziniert, wie schnell sich seine Fußspuren im Sand mit Wasser füllten, und hat mit dem Schäufelchen unermüdlich ein Loch nach dem anderen gegraben, nur um zuzusehen, wie sie volllaufen.«

      »Amy hat nie Sandburgen gebaut, immer nur Türme, Türme, Türme. Je höher, desto besser. Wer weiß, vielleicht hab ich das hier«, er zeigte mit dem Zeigefinger um sich, »auch wegen ihr gebaut. Meinen Turm.«

      »Tom hat mich gefragt, ob Dinge genau wie Menschen Wünsche haben.«

      »Möchte Schnee schwitzen?«, fragte er lachend. »So was?«

      »Genau. Wäre Salz gern süß?«

      »Will eine Kugel aus der Pistole fliegen? Wie alt war er da?«

      »Sieben. Will der Spiegel, dass man sich in ihm betrachtet!«

      »Großartig! Soll ich Musik anmachen?«

      Sie nickte und sah zu, wie er die Beine aus dem Bett schwang, auf allen vieren zu den LPs hinüberkroch, als wolle er sie auf den Arm nehmen, den Plattenstapel durchblätterte, eine herauszog und sie auflegte. Neben dem Namen Daniel Lanois war auf der Hülle das Schwarz-Weiß-Foto eines gut aussehenden, geheimnisvoll lächelnden Mannes abgebildet, der sie an einen Indianer erinnerte.

      »Weißt du, was meine Frau nach ihrer letzten Affäre zu mir sagte? ›Ich habe es für uns getan!‹«

      »Ich habe es für uns getan? Ernsthaft?«

      Daniel Lanois Stimme löste Bilder in ihr aus, die sie ablenkten, Bilder, die sie irritierten; sie sah einen breiten dunklen Strom, der träge an ihr vorbeifloss, sah ein Floß, auf dem sie saß, dabei stand sie doch am Ufer.

      »Alles in Ordnung?«, fragte Jake.

      »Die Musik gefällt mir. Ich habe es für uns getan? Hat sie das wirklich gesagt?«

      »Ich hab die idiotische Ausrede in jedem Streit gebraucht. Wenn ich besoffen war: Ich habe es für uns getan! Wenn ich die Nerven verlor: Ich habe es für uns getan! Als ich unser Auto zu Schrott fuhr: Ich habe es für uns getan!«

      »In den zwei Wochen vor seinem Unfall hat Michael die Zahnpastatube nicht mehr zugemacht, in Zimmern das Licht brennen lassen, dauernd seine Schlüssel verlegt und gelächelt, immer nur gelächelt. Als wüsste er was, was ich nicht weiß.«

      »Entschuldige bitte, wenn ich das frage, Co, aber war es ganz bestimmt ein Unfall?«

      »Weißt du, wie oft ich mich das gefragt habe?«

      »Und? War es ein Unfall?«

      »Ich denke schon, ja. Die erste Zeit danach habe ich mich gefühlt wie der Schatten, den mein toter Michael wirft.«

      Offenbar war Ebbe, jedenfalls bemerkte sie Fels- und Sandbänke, die ihr bisher nicht aufgefallen waren, an denen sich die hereinrollenden Wellen brachen. Die aufspritzende Gischt wirkte, als sei sie in der Bewegung erstarrt und in der Luft festgefroren, so dicht folgten die Sets der Wellen aufeinander.

      »Gibt es Sturm?«

      Jake schüttelte den Kopf, räusperte sich und schob die Decke von sich; er roch nach Holz und ganz leicht nach Schweiß.

      »Auflaufende Flut, kaum Wind, kein Grund zur Sorge. Vor einem Sturm sieht’s anders aus.«

      Die Wellen bauten sich aus dem Nichts auf und krachten mit dumpfem Knallen auf die Felsbänke. Die Fähre war verschwunden, dafür kämpfte sich ein Zodiak durch die kabbelige See.

      »Seit wann rauchst du eigentlich wieder?«, fragte Jake leichthin.

      »Rauch ich?«

      »Ach komm, Co! Für jede Zigarette, die du rauchst, nimmt Gott dir zehn Minuten weg.«

      »Eine, manchmal zwei am Tag, mehr nicht, Herr Lehrer.«

      »Zehn Minuten, die er Keith Richards gibt.«

      »Ich glaube nicht an Gott, Jake.«

      »Und an die Stones?«

      »Ich bin Beatles-Fan!«

      »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Paul McCartney raucht. Du?«

      Sie schüttelte den Kopf und strich ihm mit der flachen Hand über den nackten Rücken.

      »Was

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