Der Trotzkopf. Emmy von Rhoden
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Ilse warf ihrem Papa einen flehenden Blick zu, der ungefähr ausdrücken sollte: "Bleib’ nicht hier, nimm mich mit fort! Ich mag nicht hier bleiben bei dem bösen Fräulein, das mich schlecht behandeln wird!" Leider verstand er den Blick anders, er hielt ihn für eine stumme Bitte, die Einladung anzunehmen und sagte zu.
Die Vorsteherin erhob sich und zog an einer Klingelschnur. Der eintretenden Magd trug sie auf, Fräulein Güssow zu rufen. Wenige Augenblicke darauf trat dieselbe in das Zimmer.
Die Gerufene war die erste Lehrerin im Institute und wohnte daselbst. Weit jünger als die Vorsteherin, war sie eine höchst anmutige, liebenswürdige Erscheinung von sechsundzwanzig Jahren. Sämtliche Tagesschülerinnen und besonders die Pensionärinnen schwärmten für sie, sie verstand es, durch gleichmäßige Güte sich die jungen Herzen zu gewinnen.
"Wollen Sie die Güte haben, Ilse auf ihr Zimmer zu geleiten," sagte die Vorsteherin, nachdem sie die junge Lehrerin vorgestellt hatte, "damit sie dort ihren Hut ablegen kann."
"Gern," erwiderte die Angeredete und trat auf Ilse zu. "Komm, liebes Kind," sagte sie freundlich und ergriff sie bei der Hand, "jetzt werde ich dir zeigen, wo du schläfst. O, du hast ein schönes, großes Zimmer; aber du wohnst nicht allein dort. Ellinor Grey wird deine Stubengenossin sein. Sie ist ein liebes Mädchen. Du möchtest gern gleich mit ihr bekannt werden, nicht wahr?"
Ilse überhörte die Frage. Mit scheuen, ängstlichen Augen sah sie den Vater an und fragte: "Du gehst doch nicht fort, Papa?" Als er sie darüber beruhigte, folgte sie Fräulein Güssow.
"Aber den Hund mußt du wohl hier lassen, du kannst ihn doch nicht mit hinauf in dein Zimmer nehmen," sagte Fräulein Raimar. "Du kannst ihn draußen der Magd übergeben, damit sie ihn so lange in Verwahrung nimmt."
Fräulein Güssow dachte weniger streng als die Vorsteherin. Sie fand es nicht so schlimm, wenn Ilse ihren Hund im Arme behielt.
"Hast du ihn so sehr gern?" fragte sie, als sie mit dem jungen Mädchen den Korridor entlangging.
"Ja," entgegnete Ilse, "sehr, sehr lieb habe ich Bob. Und ich darf ihn nicht hier behalten."
Sie legte ihre Wange auf des Hundes Kopf und kämpfte mit dem Weinen.
"Gräme dich nicht darum, Kind," tröstete Fräulein Güssow, "das ist nicht so schlimm. Du findest hier viel etwas Besseres. Du sollst einmal sehen, wie bald du den Bob vergessen haben wirst. Wir haben zweiundzwanzig Pensionärinnen jetzt im Institute, du wirst manche liebe Freundin unter ihnen finden. Hast du Geschwister?"
"Nein," sagte Ilse, die ganz zutraulich gegen Fräulein Güssow wurde, "ich bin allein."
"Nun, siehst du! Da kann ich mir deine Liebe zu dem unvernünftigen Tiere erklären, dir fehlten die Gespielinnen. Gieb deinen Hund getrost dem Papa wieder mit zurück, du wirst ihn nicht vermissen."
Sie stiegen eine Treppe hinauf und kamen auf einen großen, hellen Vorsaal, auf welchem eine Anzahl Thüren mündeten. Eine derselben öffnete die Lehrerin, und sie traten in ein geräumiges Zimmer ein, das nach dem Garten führte. Die Fenster waren geöffnet und ein mächtiger Apfelbaum streckte seine Zweige fast zum Fenster hinein.
Die Einrichtung war nicht elegant, nur das Notwendigste befand sich in dem Zimmer. Zwei Betten, zwei Kommoden und zwei Kleiderschränke, dann noch ein großer Waschtisch und einige Stühle.
Als Fräulein Güssow mit Ilse eintrat, erhob sich schnell ein junges Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren, das mit einem Buche in der Hand am Fenster gesessen hatte. Es war ein schlankes, zartgebautes Wesen, mit goldblondem Haar, das sie in einem Knoten aufgesteckt trug, mit blauen Augen und mit schelmischen Grübchen in den Wangen, sobald sie lachte. Es war Ellinor Grey, eine Engländerin.
"Hier bringe ich dir Ilse Macket, Nellie," so wurde der Engländerin Namen allgemein abgekürzt. "Ich denke, du wirst dich ihrer liebreich annehmen."
"O ja, ich werde ihr sehr lieben," antwortete Nellie und reichte der Neuangekommenen die Hand. "Bleibt die Hund auch hier?" fragte sie.
"Nein," sagte Fräulein Güssow.
"O wie schade! Es ist ein so süßes Tier!" Und sie streichelte Bob.
Es klang so drollig und sie sah so schelmisch aus, daß Ilse sofort sich von ihr angezogen fühlte. Gern hätte sie noch ein Weilchen dem komischen Geplauder Nellies zugehört, aber sie mußte dem Fräulein folgen, die sich vorgenommen hatte, ihr einige Schulräume zu zeigen. Zuerst öffnete sie die Thür zu dem Musikzimmer, dann gingen sie in den Zeichensaal und zuletzt wurde Ilse in den sogenannten großen Saal geführt. Die junge Lehrerin erzählte ihr, daß in demselben alle Examen und zuweilen auch Festlichkeiten stattfänden. Ilse hörte mit halbem Ohre, sie hatte nämlich durch eine offenstehende Thür einen Blick in eine leerstehende Klasse gethan und Schulbänke darin entdeckt. Dort eingeklemmt sollte sie von jetzt an sitzen, nicht aufstehen dürfen, wenn es ihr beliebte – o, es war entsetzlich! Ein Grauen überkam sie plötzlich, ihr war, als würde ihr die Brust zusammengeschnürt.
"In welche Klasse meinst du, daß du kommen wirst?" fragte das Fräulein, "deinem Alter nach müßtest du wohl in die erste versetzt werden. Hast du deine Arbeitsbücher mitgebracht? Wie steht es mit den Sprachen? Französisch und Englisch sind dir wohl geläufig, da du stets, wie dein Papa schrieb, eine englische oder französische Gouvernante hattest."
Von unten herauf tönte eine Glocke. Dies war eine sehr gelegene Unterbrechung für Ilse, der es unheimlich bei dem Examen wurde. Sie sagte, daß sie nicht wisse, wie weit sie sei, französisch glaube sie sprechen zu können.
"Nun laß nur, mein Kind," meinte das Fräulein, "heute wollen wir noch nicht an das Lernen denken, bei deiner Prüfung morgen werden wir ja sehen, welch kleine Gelehrte du bist. – Wir wollen jetzt hinunter in den Speisesaal gehen, die Glocke hat uns zu Tisch gerufen."
Als sie in denselben eintraten, fanden sie die Vorsteherin mit dem Oberamtmann bereits dort. Erstere machte ihn mit der herkömmlichen Einrichtung während des Essens bekannt. Zum Beispiel, daß die zuletzt angekommene Pensionärin stets ihren Platz neben der Vorsteherin angewiesen erhalte. Dann, daß zwei junge Mädchen wöchentlich den Tisch zu besorgen hatten. Dieselben mußten denselben decken und genau acht geben, daß nichts fehlte und sämtliche Gegenstände sauber und blank waren. Die Jüngste der Pensionärinnen sprach stets das Tischgebet.
Dem Oberamtmann gefielen die Anordnungen vortrefflich und als er seinen Blick über die junge Mädchenschar hingleiten ließ, mußte er seine Freude aussprechen, wie gesund und fröhlich fast alle aussahen.
Ilse sah auch umher, aber es waren nicht die fröhlichen und gesunden Gesichter, die sie interessierten, sondern die Schürzen. Jede Einzelne trug ein solches von ihr verachtetes Ding, und Fräulein Raimar sah nicht aus, als ob sie eine Ausnahme bei ihr gelten lassen würde.
Nach dem Gebete wurden die Speisen aufgetragen. Dieselben waren kräftig und gut gekocht, und Herr Macket konnte sich überzeugen, daß sein Kind auch in dieser Hinsicht gut versorgt sein werde.
Nach