Lacroix und die stille Nacht von Montmartre. Alex Lépic

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Lacroix und die stille Nacht von Montmartre - Alex Lépic Red Eye

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lex Lépic

      Lacroix und die stille Nacht von Montmartre

      Sein dritter Fall

      Kampa

      Weißer Boulevard

      1

      Lacroix wollte es nicht glauben. Aber es war wie immer, wenn sich in dieser Stadt etwas Großes oder Absonderliches ankündigte: Die Welle der stillen Post wogte durch die Straßen, erfasste zuerst die Kioskverkäufer, die ihren Kunden die Neuigkeit zuraunten, dann schwappte die Information etwas abgewandelt und dramatisiert an die alten Zinktresen, wurde von dort aus weitergetragen und überschwemmte schließlich die ganze Stadt. So war es am Morgen Monsieur Hoche gewesen, der Verkäufer des Kiosks in der Rue de la Montagne Sainte-Geneviève vor dem Kommissariat des fünften Arrondissements, der ihm davon erzählt hatte. Ja, es stand in allen Zeitungen! Lacroix hatte wie üblich den Figaro gekauft und sich kopfschüttelnd die Landkarte auf der letzten Seite angesehen. Im Büro hatte er es dann im Radio gehört, das Capitaine Jade Rio neuerdings während der Arbeit leise laufen ließ. France Inter hatte davon gesprochen – und die Journalisten im Maison de la Radio im 16. Arrondissement waren in der Regel hervorragend informiert.

      Letztlich war es Yvonne Abeille, Wirtin seines Stammbistros Chai de l’Abbaye, die ihn zu einem Nicken veranlasste, als sie am Mittag noch vor dem Zapfen des ersten Bieres fragte:

      »Mon cher Commissaire, hast du es gehört? Es soll schneien! Am Abend schon. Hier. In Paris!«

      Da Lacroix, der es sonst vermied, derlei äußere Umstände zu kommentieren, den Kopf hob und sie sogar freundlich ansah, fühlte sie sich bemüßigt, die Sache weiter auszuführen:

      »Es ist eine unglaubliche meteorologische Sensation, haben sie im Radio gesagt. Drei Kaltfronten, die über dem Atlantik aufeinandergetroffen sind und in der Bretagne schon für hohe Schneeberge gesorgt haben. Nun zieht die Front gen Osten – und es ist so viel Schnee im Anflug, dass es tatsächlich weiße Weihnachten geben könnte. Das wäre das erste Mal, seit … Ach, was sag ich … Ich kann mich gar nicht an weiße Weihnachten erinnern.«

      »2001 sind wir knapp daran vorbeigeschrammt«, murmelte Lacroix. »Aber 1962. 1962 gab es weiße Weihnachten.«

      »Stimmt. 1962. Du hast recht. Da warst du wie alt? Drei?«

      »Hmm …«

      »Und ich war sechs. Herrje, ich habe es fast vergessen. Dabei bin ich mit maman draußen im Buttes-Chaumont Schlitten gefahren. Das war herrlich. Seit wann hast du so fundierte Kenntnisse über die Wetterverhältnisse in Paris?«

      »Hmm …« Wieder grummelte er nur.

      Yvonne sah ihn fragend an, ging um den Tresen herum und lehnte sich auf den Barhocker, der Lacroix am nächsten stand. Er bemerkte es: Sie war besorgt. Eigentlich hatte sie alle Hände voll zu tun, der Laden war brechend voll jetzt in der Mittagszeit.

      »Was ist los, mon Commissaire

      »Ach, es ist nichts«, sagte er und sah sie zum ersten Mal richtig an. »Mir ist nur furchtbar langweilig. Es ist seit Tagen so ruhig im Kommissariat, ich könnte den ganzen Tag hier an der Theke sitzen. Und nun reden auch noch alle nur über den Schnee, der heranzieht. Bis Weihnachten wird es kein anderes Thema mehr geben – und es wird nichts mehr passieren.«

      Sie sah ihn nach seinem unwirsch vorgetragenen Monolog kurz an, erstaunt zwar, doch sie kannte ihn so gut wie kaum jemand und wusste: Lacroix konnte Langeweile einfach nicht ertragen.

      »Mach es dir gemütlich. Plat du jour ist confit de canard aus der Gascogne, jetzt, wo es so schön kalt ist. Wein oder Bier?«

      »Ein Roter wäre gut.«

      »Besser als ein Toter«, sagte sie und musste über ihren eigenen Witz laut lachen. Nur Lacroix’ Laune war immer noch im Keller.

      Sie stellte einige Augenblicke später ein Glas mit dem kalten Chinon von der Loire vor ihm ab, den Lacroix so mochte. Er nahm einen Schluck, während die Wirtin im Gastraum verschwand, um die Angestellten der umliegenden Büros zu bedienen. Ein angenehmer Klangteppich aus Stimmen und leisem Gelächter umgab den Commissaire. Doch er sah nur in fremde Gesichter, das Quartier war voller Touristen und Weihnachtsgeschenkekäufer, die hier kurz Rast machten. Stammgäste waren nicht zu sehen, auch nicht die beiden anderen Männer ihrer Theken-Troika, deren Gesellschaft Lacroix hätte aufmuntern können: Pierre-Richard hielt die Mittagsmesse und würde erst später kommen. Lacroix konnte sich kaum an die Zeit erinnern, als sein Bruder noch nicht Pfarrer der altehrwürdigen Basilique Sainte-Clotilde in der Rue las Cases im siebten Arrondissement gewesen war. Und auch bei Alain, dem Gemüsehändler gegenüber, standen die Hausfrauen Schlange, um fürs dîner einzukaufen. Lacroix würde also allein bleiben. So griff er nach dem Parisien, der verlassen auf der Theke lag, und blätterte missmutig darin herum.

      In der Titelgeschichte ging es um die neuen Fahrradwege an den Quais, darunter stand eine Hommage an eine kürzlich verstorbene Filmschauspielerin. Im Innenteil gab es eine größere Geschichte über Korruptionsvorwürfe gegen einen Politiker aus den Yvelines und ein Porträt einer berühmten Nonne, die in Sacré-Cœur erwartet wurde. Die Schlagzeile lautete: Die Mutter Teresa der Moderne kommt nach Paris. Lacroix rümpfte die Nase. Dann las er aufmerksam die kurzen Berichte aus den einzelnen Quartieren. Ein Wohnungsbrand an der Place d’Italie. Eine Notiz über die gestiegenen Besucherzahlen auf dem Weihnachtsmarkt an den Champs-Élysées. Doch was war das? Er stutzte und las die kurze Meldung noch einmal.

      Diebstahl der Weihnachtsbeleuchtung auf der Place du Tertre

      Auf der beliebten Place du Tertre in Montmartre ist in der Nacht zu gestern die komplette weihnachtliche Beleuchtung entwendet worden. Erst vor einer Woche hatte Charles Dufour, Bürgermeister des 18. Arrondissements, die eintausend glänzenden Lichter eingeweiht, die rund um den Platz angebracht waren, gesponsert von Électricité de France, Frankreichs führendem Stromkonzern. Einem Straßenkehrer war der Diebstahl in den frühen Morgenstunden aufgefallen, von den Tätern fehlt jede Spur. Hinweise nimmt das Kommissariat des 18. entgegen, Commissaire Violet leitet die Ermittlungen.

      »Deine Keule«, sagte Yvonne, und Lacroix erschrak kurz, weil er so in Gedanken versunken war, doch dann machte er Platz, und sie stellte den dampfenden Teller vor ihm auf den Tresen. Die Ente war kross und die Soße aus Rotwein und Zwiebeln dunkel und glänzend. So hatte er es am liebsten. Dazu servierte Yvonnes Gatte, der in der winzigen Küche des Bistros unentwegt werkelte, weiße Bohnen aus Tarbes, einer kleinen Stadt in den Pyrenäen. Die Sämigkeit der Bohnen passte wunderbar zu dem feinen Geschmack des tiefroten Entenfleischs.

      Doch Lacroix konnte noch nicht essen. »Darf ich kurz telefonieren?«

      »Nimm es dir bitte selbst«, antwortete Yvonne, »ich muss servieren. Aber lass dein Essen nicht kalt werden.«

      Er ging um den Tresen herum, fiel fast über Yvonnes braunen Yorkshireterrier Idefix, der hinter der kleinen Klapptür lag und schlief, und griff sich den Hörer des alten Telefons. Er kramte in seinem Notizbuch und fand schnell die Nummer, die er suchte. Am anderen Ende wurde sogleich abgehoben.

      »Commissariat du 18ème, Commissaire Violet?«

      »Rose …«, Lacroix’ Stimme war so sanft geworden, dass Yvonne ihn misstrauisch von der Seite ansah, »hier ist …«

      »Der berühmte Lacroix«, ergänzte die rauchige Stimme am anderen Ende mit einer Mischung aus Vertrautheit und kaum verborgener Ironie. »Der berühmte Lacroix, der sich hier seit Jahren nicht mehr hat blicken

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