Das schwarze Herz. Armin Öhri
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Gideon Horlitz schien mehr gesehen zu haben als der Tatortzeichner. Enttäuscht über die eigene Unfähigkeit, die Indizien zu deuten, wandte sich Julius einem der beiden Polizisten zu, um wenigstens etwas Verwertbares über den Toten zu erfahren. Der Kriminalkommissar klopfte inzwischen die Wände ab, kroch auf allen vieren auf dem Boden umher und gebärdete sich so schrullig und eigenartig, dass die beiden Gendarmen ihn ratlos anschauten. Julius zuckte gelassen mit den Schultern. Bei Gideon musste man auf alles gefasst sein.
Etliche Minuten später trat der Kommissar fröhlich gelaunt an Bentheims Seite: »Julius, Albrecht! Kommen Sie Ihren Pflichten nach. Ich habe alles gesehen, was es zu sehen gibt, und bin Ihnen sehr verbunden, meine Herren.«
»Aber«, entgegnete der Tatortzeichner, »Sie haben den Toten ja noch gar nicht genauer begutachtet.«
»Das ist vorerst auch wirklich nicht nötig«, antwortete Gideon jovial. »Was mich antreibt, ist erst einmal die Lust auf ein paar Buletten, später dann vielleicht noch eine Berliner Weiße!«
Und so ließ der Kriminalkommissar seine beiden Polizeiadepten verdutzt am Tatort zurück.
Zweites Kapitel
Einige Stunden später, es ging schon auf neun Uhr zu, erreichten Bentheim und Krosick – bis auf die Knochen durchgefroren – das Revier am Molkenmarkt, wo sich das Polizeipräsidium und die Stadtvogtei gemeinsam im ehemaligen Palais des Oberfeldmarschalls von Grumbkow befanden. Gleich daneben, im früheren Palais des Grafen von Schwerin, hatte seit 1771 das Kriminalgericht seinen Sitz genommen. Der gesamte Gebäudekomplex galt wegen der oft willkürlich ausgeübten Polizeigewalt als Ort des Schreckens. Als die beiden jungen Männer jedoch an diesem Novembertag des Jahres 1868 in Gideons Büro saßen, war davon nichts zu spüren. Albrecht hatte seine Fotos bereits entwickelt und die Abzüge abgegeben, Julius deponierte die Tatortzeichnungen auf dem Bürotisch. Ihnen beiden war es ein Anliegen, in Gideons Gegenwart die vergangene Nacht noch einmal Revue passieren zu lassen. Auf der Tischplatte standen drei heiße, dampfende Tassen Lindenblütentee, und allmählich erfüllte ein aromatischer Geruch den Raum.
Der Kommissar führte das Getränk an die Nase und inhalierte kurz. Zufrieden seufzend stellte er die Tasse, ohne aus ihr getrunken zu haben, zurück auf den Tisch.
»Wie finden wir den Mörder?«, fragte Julius beiläufig, worauf ihn Horlitz mit hochgezogenen Augenbrauen spöttisch anstarrte.
»Sie meinen eher: Was war das Motiv des Mörders?«
Bentheim, der nicht verstand, worauf der Beamte hinauswollte, erklärte sich: »Ich frage mich lediglich, welche unsere nächsten Schritte sein werden.«
»Denken Sie logisch, mein lieber Julius! Glauben Sie denn wirklich, ein dreister Räuber hätte sich auf das weitläufige Gelände des Anwesens geschlichen, wäre dort eingebrochen, hätte auf Anhieb das Zimmer mit dem Safe gefunden, diesen geöffnet und wäre schließlich morgens um drei auf den Hausherrn gestoßen, der sich dann – rein zufällig natürlich – angezogen mit Hemd und Krawatte von dem bösen Buben erschießen lässt? Das klingt ziemlich überdreht. Und nebenbei ist es albern. Nein, Julius, denken Sie logisch! Wir sind hier nicht in einem Ihrer heiß geliebten Kolportageromane.«
Bohrend blickte ihm Horlitz in die Augen. Als von dem Tatortzeichner keine Antwort kam, meinte er vorwurfsvoll: »Es ist doch sonnenklar, dass uns der Hausdiener belogen hat. Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«
Bentheim schüttelte den Kopf, und mechanisch massierte er sich die linke Hand, deren Ringfinger und kleiner Finger er in Königgrätz auf dem Schlachtfeld eingebüßt hatte.
Zu seiner Verwunderung nickte Albrecht Krosick. Wenngleich Julius wusste, dass das kriminalistische Gespür seines Freundes sein eigenes bisweilen übertraf, war er doch gespannt auf dessen Ausführungen; jene Ausgeburten der Hirnwindungen, die Bentheims deduktives Denken in den Schatten stellten. Stets war er aufs Neue überrascht, wenn er erleben durfte, wie sein Freund skurrile Aspekte schier unlösbarer Kriminalfälle enträtselte. So war es beim Fall der Dunklen Muse gewesen, bei den seltsamen Vorgängen um den Bund der Okkultisten oder bei der geheimnisvollen Dame im Schatten. Und so war es auch diesmal. Inzwischen waren sie auch keine Studenten mehr, seit sie im Frühjahr ihre Jus-Prüfungen bestanden hatten, sondern Aspiranten für den Polizeidienst.
»Nun gut, Julius, geliebter Freund und Zechbruder«, begann Albrecht ausgelassen. »Laut Aussage des Hausdieners war um Viertel vor drei ein dumpfes Geräusch zu vernehmen: allem Anschein nach der Mörder, der sich Zutritt ins Haus verschafft hatte. Jetzt zeigt aber die Standuhr im Zimmer, wo die Tat geschehen ist, ebendiese Zeit an. Ein Zeiger ist auf der Neun, ein anderer auf der Drei.«
»Was beweist, dass der Diener recht hat«, warf Bentheim ein.
Krosick schüttelte missbilligend den Kopf.
»Es wäre ein überaus großer Zufall, wenn die Uhr just zu jener Zeit stehen geblieben wäre, als der Mörder ins Haus gekommen war. Hast du nicht die Glasscherben auf dem Boden bemerkt?«
»Doch.«
»Natürlich. Dumme Frage – du musstest sie ja zeichnen. Also ist dir aufgefallen, dass die Uhr exakt dem Tresor gegenüber steht.«
Erneut nickte der Tatortzeichner.
»Und du hast sicherlich bemerkt, dass der Safe gewaltsam geöffnet wurde.«
»Ja, es wurden einige Kugeln auf ihn abgefeuert.«
»Dann darf ich dir somit die Lösung des Rätsels präsentieren?«
Bentheim rollte die Augen. »Nur zu.«
»Nun gut«, begann Krosick in der für ihn typischen, leicht nervigen Art, anderen gegenüber aufzutrumpfen. »Der Eindringling steht also vor dem Safe und versucht, ihn zu öffnen. Er zieht die Pistole, zielt auf den metallenen Kasten und drückt einige Male ab, weshalb der Tresor fünf Dellen aufweist. Auf dem Boden davor haben die Polizisten denn auch fünf Patronenhülsen, jedoch nur vier Projektile gefunden. Irgendwo, Kollege Julius, muss also noch eine weitere Kugel sein.«
Bentheim pfiff anerkennend.
Der Tatortfotograf fuhr fort: »Ein Schuss wurde also reflektiert, schwirrte ziellos durch den Raum und traf – zufällig – das Zifferblatt der Standuhr genau in seiner Mitte. Die gläserne Einfassung zersplitterte, womit wir auch die vielen Scherben am Boden erklären können. Die Kugel aber fuhr durch das Uhrwerk und brachte die Uhr zum Stehen. Ich habe mir das Gehäuse etwas genauer angesehen, Julius. Die beiden Zeiger wurden durch den Eintritt der Kugel zwar blockiert, doch müssen sie sich in diesem blockierten Zustand noch kurz gedreht haben.«
»Wie das?«, fragte Julius verblüfft. »Die Uhr zeigte doch Viertel vor drei, wie es der Hausdiener zu Protokoll gegeben hat.«
Nun war es Horlitz, der mit wissender Miene lächelte. »Die Uhr zeigte etwas in der Nähe von Viertel vor drei, denn um diese Uhrzeit können die Zeiger keine gerade Linie bilden und gleichzeitig auf der Neun und der Drei stehen. Das ist nicht möglich.«
Julius zog seine Mercier, die ihm einst ein Onkel vermacht hatte, aus der Westentasche und blickte prüfend auf das Zifferblatt. Mit wenigen Handgriffen drehte er die Rädchen der Zeigerjustierung. Allmählich dämmerte ihm, worauf seine Freunde hinauswollten.