Unterwegs geboren. Christa Enchelmaier
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Unter dem feierlichen Geläut der Kirchenglocken setzte sich der lange Zug in Bewegung. Sie fuhren langsam, schauten immer wieder zurück. Sie fuhren an Feldern vorbei, auf denen sie jahrelang gearbeitet hatten. Es waren noch die tiefen Radspuren von den vollgeladenen Erntewagen zu sehen. Und auch die großen Strohschober, Zeugen der letzten Ernte, zeichneten sich noch dunkel gegen den hellen Morgenhimmel ab. Der noch nicht geerntete Mais auf den Feldern und die Rebstöcke in den Weingärten – dieser Anblick wird wohl ein Leben lang in ihrer Erinnerung bleiben.
Sie fuhren gen Süden, zur Donau, an verlassenen deutschen Dörfern vorbei. Sie fuhren an großen, ungeernteten Maisfeldern und an Stoppelfeldern vorbei, durchquerten eine leere Steppe, bis sie an einen Wasserlauf oder Brunnen kamen, wo sie einen Rastplatz für die erschöpften Menschen und Tiere fanden. Sie gönnten sich nur eine kurze Nachtruhe und fuhren ganz früh am Morgen weiter durch einsame, leicht wellige Landschaften, durch die sie ab und zu riesige Schafherden ziehen sahen.
Manchmal führte sie der Weg auch durch bulgarische und russische Dörfer. Oft standen dann Leute am Wegrand, um ihnen ein Abschiedswort zu sagen. Einige reichten gekühlten Wein, Trauben oder Melonen zur Erfrischung. Die Frauen weinten und die jungen Burschen riefen: »Nehmt uns doch mit, wir wollen auch nach Deutschland, dort mit euch arbeiten!«
Noch fuhren sie durch bekannte Gegend, aber je weiter sie in den Süden kamen, umso fremder wurde die Landschaft. Als es dann auch noch zu regnen begann, waren sie der Verzweiflung nahe. Nur langsam ging es jetzt vorwärts, doch glücklicherweise hörte der Regen nach kurzer Zeit auf.
Abends erreichten sie die gefürchteten Lösschluchten. Hätte es in der Nacht weitergeregnet, wären sie in der weichen Erde, in der sich das Wasser gestaut hätte, stecken geblieben.
Hier nächtigten sie, bauten eine große Wagenburg als Schutz vor Kälte und vor Überfällen und wärmten sich am Lagerfeuer.
Ohne besondere Vorfälle durchquerten sie am nächsten Morgen die großen, gefahrvollen Lösschluchten und gelangten an die Grenze. Im Donauhafen Reni kontrollierten die Russen die Umsiedlungslisten und durchsuchten das Gepäck. Alles Essbare wurde konfisziert. Mit Stöcken wurde in Hab und Gut herumgestochert und nach Wertvollem gesucht.
Als diese Kontrollen endlich überstanden waren, war den Menschen die Erleichterung anzumerken. Die nächste Herausforderung stand aber schon bevor; die behelfsmäßig errichtete Pontonbrücke über den Grenzfluss Pruth. Sie schwankte und die Pferde weigerten sich weiterzugehen. Nur mit sehr viel Geduld und Zuspruch schafften sie die Überfahrt nach Rumänien.
Nach tagelanger, anstrengender Steppenfahrt erreichten sie dann den Hafen von Galatz. Der Anblick der Donau mit den vielen großen Schiffen war für die meisten ein großes Erlebnis. Viele kannten Erzählungen ihrer Väter und Großväter, die ihr Getreide in Galatz verkauft hatten. Nun waren sie den gleichen Weg gefahren, aber nicht um Geschäfte zu machen, sondern um alles, was sie sich erarbeitet hatten, endgültig zurückzulassen.
Ihr übriggebliebenes Gepäck luden sie im Hafen aus. Es wurde registriert und auf Frachtern nach Wien weitergeleitet. Mit dem leeren Wagen fuhren sie dann in das umzäunte und streng bewachte Sammellager, wo sie ihre Pferde bei einer deutschen Kommission abgeben mussten. Und dabei waren die Pferde eines bessarabischen Bauern ganzer Stolz. Sich von ihnen zu trennen, tat besonders weh.
Von der Donaufahrt erzählten die Männer wenig. Sie waren erschöpft und müde und wollten ihre Ruhe haben.
Die Männer hatten nur einen kleinen Koffer mit den nötigsten Wäschestücken dabei. Die übrigen Sachen sollten von Wien aus an die neuen Ansiedlungsorte versandt werden.
Nach Erhalt und Öffnen der Kisten und Koffer sollten sie später aber mit Schrecken feststellen, dass fast alle wertvollen Gegenstände fehlten. Auf Reklamationen beim SS-Ansiedlungsstab erfolgte keine Antwort. Wie aber später dann bekannt wurde, war im Zentrallager in Wien eine Diebesbande am Werk, die organisierten Raub betrieben. Während sonst im Reich auf Plünderungen die Todesstrafe stand, wurden jene am Hab und Gut der Umsiedler durch amtliche SS-Stellen geduldet, teilweise sogar selbst betrieben. Nach durchgeführten Erhebungen wurden 30 bis 50 Prozent des Umsiedlergroßgepäcks gestohlen, was einem Wert von mehreren Millionen Mark gleichkam.
Offiziell wurden die Umsiedler von der NS-Propaganda feierlich willkommen geheißen, von der Lagerleitung aber oft als Menschen zweiter Klasse angesehen. Die Einheimischen bezeichneten die Einwanderer sogar als weiße Araber oder Russen und Balkanesen.
Das Regime in diesem Lager glich dem eines KZ. Die zugeteilten Rationen von Lebensmitteln wurden zum größten Teil gestohlen. Lagerverwalter, Verwaltungs-personal, Köchinnen und deren Mitläufer bedienten sich, während die Insassen hungerten.
Die moralische Wirkung dieser Vorgänge auf die Umsiedler war katastrophal. Diebstahl, Ungerechtigkeit, Übergriffe auf persönliche Freiheit, Brutalität und Frechheiten mussten sie über sich ergehen lassen.
Zusammengepfercht in den großen Hallen lebten sie ohne Privatsphäre. Trostlose Langeweile machte ihnen zu schaffen. Mathilde H. berichtete, dass die Betten voller Wanzen und Flöhe gewesen seien. Ihr kleiner Sohn sei jeden Morgen am ganzen Körper mit roten Flecken übersät gewesen. Auch Albert B. erzählte, dass viele Insassen mit stark juckenden roten Flecken oder Quaddeln auf der Haut zu kämpfen hatten. Man spürte den Biss der Bettwanze nicht, erst am nächsten Morgen fängt er an zu jucken. Hinzu kamen Krankheiten hauptsächlich durch Mangelernährung und eine erhöhte Ansteckungsgefahr durch die beengten Verhältnisse. Der hohe Geräuschpegel belastete vor allem die alten Menschen. Sie konnten sich an die Unruhe nicht gewöhnen.
Alles in allem waren es unmenschliche Bedingungen. Und niemand ahnte, dass das Lagerleben fast ein Jahr dauern würde.
Nach einer Quarantänezeit erfolgte im Dezember 1940 dann die Einbürgerung. Bei diesem Vorgang wurden alle Lagerbewohner einer als Gesundheitsprüfung getarnten rassischen, erbbiologischen und gesundheitlichen Selektion unterzogen. Auch die politische Zuverlässigkeit sowie die berufliche Einsatzmöglichkeit wurden geprüft.
Albert B. berichtete: »Eine Mannschaft aus Ärzten, Schwestern und SS-Leuten führten die Untersuchungen durch. Die ›Patienten‹ mussten sich nackt ausziehen, dann wurden sie einer nach dem anderen von oben bis unten untersucht, es wurde nach früheren Krankheiten gefragt, die Lunge wurde abgehört, die Körpergröße gemessen, der Zustand der Zähne vermerkt. Blut wurde abgenommen und es wurde nach Erbkrankheiten gefragt. Man musste den Ahnenpass vorlegen und es wurde genau geprüft, ob die Ahnenreihe stimmte, ob es bestimmte Krankheiten oder Behinderungen gegeben hat. Nach Können und Fähigkeiten wurde gefragt und alles penibel in Karteikarten eingetragen. Zum Schluss wurden alle mit einer umgehängten Registriernummer fotografiert. Nach dieser Prozedur wurden sie in O-Fälle, A-Fälle und S-Fälle eingestuft.«
Diese Behandlung empfanden vor allem die Erwachsenen als sehr verletzend.
Die Urkunden, Stammbäume, Familienbücher und Auszüge aus dem Kirchenregister hatten die Umsiedler schon bei der Registrierung zur Ausreise aus Gnadental benötigt und so konnten sie nun ihre Herkunft belegen.
Durchgeführt wurde diese Prozedur auf Weisung Himmlers von ›Fliegenden Kommissionen der Einwandererzentralstelle‹, einer Einrichtung des Reichssicherheitshauptamtes. Die Einwanderungszentralstelle, zusammengesetzt aus Polizei, SS und Sicherheitsdienst, entschied über das weitere Schicksal von ganzen Familienverbänden.
Das Versprechen bei der Umsiedlung, dass alle im Warthegau einen Hof zugeteilt