Unterwegs geboren. Christa Enchelmaier
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Die Einstufung als A-Fall war das Schlimmste, was den Menschen passieren konnte. Sie sollten ins Altreich zur Umerziehung geschickt werden und in Fabriken arbeiten. Sie mussten Abschied nehmen von der Volksgruppe, von der Dorfgemeinschaft, von Verwandten und Bekannten, teilweise auch von ihren Familien, wenn die anderen Geschwister O-Fälle waren und im Osten angesiedelt wurden.
10.000 Umsiedler wurden als nicht würdig eingestuft, einen polnischen Hof zu verwalten. Sie wehrten sich bei allen möglichen Stellen. Eine Untersuchungskommission stellte fest, dass Willkür im Spiel war. Daraufhin wurden 6.000 A-Fälle in O-Fälle umgeschrieben und im Osten angesiedelt.
Die dritte Stufe, die sogenannten S-Fälle, meistens nichtdeutsche Knechte und Mägde, durften nur im Generalgouvernement unterkommen. Man versuchte auch, sie wieder in ihre Herkunftsländer abzuschieben.
In manchen Lagern, auch in Böhmisch-Leipa, wurde die Blutgruppenzugehörigkeit unter dem linken Arm eingebrannt. Als Argument wurde angeführt, dass bei einer Verletzung schneller geholfen werden könnte, wenn die Blutgruppe bekannt sei. Diese Brandnarben waren später für viele ein Todesurteil, weil russische und polnische Soldaten diese als SS-Zeichen ansahen. Bei meinem Vater war das Brandzeichen zum Glück so verwachsen, dass es nicht mehr erkennbar war.
Nach der Einbürgerung erhielten die Umsiedler die Möglichkeit, sich durch Arbeit etwas Geld zu verdienen. Mein Vater fand Arbeit bei der Bahn und konnte dadurch für einige Stunden der drangvollen Enge des Lagerlebens entrinnen.
Albert B. berichtete, dass die ledigen Männer in Gruppen zu Arbeitseinsätzen geschickt wurden. Er war damals 17 Jahre alt und seine Gruppe bestand aus 14 Personen, die in Obergrazau bei Reichenbach eingesetzt wurden, um bei der Post Telefonleitungen zu verlegen. Da sie dort auch Unterkunft und Verpflegung bekamen, war diese Zeit für sie erträglicher als jene im Lager. Es war allerdings ein ständiger Wechsel in der Mannschaft, weil immer wieder welche den Stellungsbefehl erhielten und in den Krieg ziehen mussten.
Die SS suchte auch im Lager Böhmisch-Leipa nach Elite-Soldaten, kann sich der damals 13-jährige Albert B. erinnern. Alle großen jungen Männer wurden begutachtet und elf von ihnen wurden in SS-Eliteeinheiten aufgenommen. Die Ausgewählten waren ungemein stolz und wurden beneidet. Wie sich später herausstellte, erhielten die 11 nur eine kurze Ausbildung. Die meisten sind im Krieg umgekommen.
Das Lager in Böhmisch-Leipa wurde ab Februar 1941 aufgelöst. Etwa 500 Kolonisten wurden nach Johnsdorf oder Grazau im Sudetengau umquartiert. Ende April erfolgte dann die Auflösung des ganzen Lagers und die Insassen konnten mit dem Zug über Dresden nach Litzmannstadt (Lodsch) reisen. Dort wurden sie abgeholt und nach Waldhorst gebracht. Dieses Lager war die letzte Station vor der endgültigen Ansiedlung.
Über die neue Heimat, auf die sich alles Denken und Hoffen konzentrierte, wussten sie kaum etwas. Auch nicht, was sie dort erwartete. Sie wussten nur, dass sie im Warthegau angesiedelt werden sollten. Genauso wie die Wolhynien-Deutschen vor einem Jahr.
Alle waren froh, als sie erfuhren, dass sie ins Ansiedlungslager Waldhorst gebracht werden sollten. Waldhorst war eine ehemalige jüdische Feriensiedlung. Viele Ferienhäuser standen auf einem eingezäunten Gelände.
Und hierher kamen nun die Umsiedler. Dort herrschte ein hartes Regime, alles wurde militärisch reglementiert. Sie mussten jetzt nicht mehr in großen Hallen zusammenleben, aber mehrere Familien mussten sich Räume teilen.
Albert B. war damals 18 Jahre alt. Er erzählte mir, dass er in Litzmannstadt zum ersten Mal Juden mit einem gelben Stern auf dem Rücken gesehen hat und so entsetzt war, dass er diesen Anblick nie vergessen hat. Die schwäbischen Kolonisten pflegten in Bessarabien gute Kontakte zu Juden. Hier nun wurden sie schon von Weitem erkannt und durch den gelben Stern diskriminiert. Es waren nur jüdische Männer, Kontakte zu ihnen waren nicht möglich. Sie wurden streng bewacht. In Kolonnen marschierten sie täglich zum Arbeitseinsatz.
Ich fragte in späteren Jahren meinen Vater, wie er sich damals fühlte. Voller Hoffnung und Ungeduld sei er gewesen. Die Wintersaat hatten sie versäumt und es war höchste Zeit für den Frühjahrsanbau. »Auf meinem bessarabischen Hof war ich um diese Zeit längst auf meinen Feldern«, sagte er. Er war es gewohnt, planmäßig und zügig seine Arbeit als Bauer zu erledigen. Er war hilflos und voller Unruhe, kostbare Zeit verrann. Eine gute Ernte war in dieser Kriegszeit lebenswichtig. Er sei oft am Zaun des Lagers gestanden, regungslos. Weit draußen pflügte ein Mann seinen dunklen Acker. Ein mageres Pferd als Vorspann. Die frisch aufgerissene Erde dampfte. »Vier Rösser hatten wir beim Ackern in der Stepp vorgespannt, vier kräftige Rösser! Wer wird jetzt ackern und säen, dort in der Stepp?«
Seine Gedanken wanderten immer wieder zurück in die Vergangenheit. Er wusste ein Loch im Zaun, durch dieses sei er oft geschlüpft und bis zu einem gepflügten Stück Land gewandert. Dort habe er die Erde in die Hand genommen. Guter Ackerboden sei es gewesen.
Im Lager herrschte eine gedrückte Stimmung. Es gingen viele Gerüchte um. Streusiedlungen hätten sie hier, keine richtigen Dörfer. Streusiedlungen, das sind weit auseinander liegende Bauernhöfe, ohne Kirche und Schule als Mittelpunkt. Ohne Nachbarn. Wie konnte man so leben? Sie gehörten ins Dorf, waren eine große Gemeinschaft, wo jeder dem anderen raten und helfen konnte!
Unruhe machte sich breit. Die Männer standen zusammen und diskutierten. Sie hatten etwas von Ablieferungsverpflichtungen gehört. Es wurde vorgeschrieben, was angebaut werden durfte. Als mein Großvater beim SS-Ansiedlungsstab in Erfahrung bringen wollte, wann sie endlich angesiedelt würden, es wäre doch höchste Zeit für den Sommeranbau, da hörte er: »Bis dort wieder etwas frei wird!« Auf weitere Fragen gab er keine Antworten.
Sollte das heißen, dass die polnischen Bauern, die dort leben, erst von dort weg müssen, damit etwas frei wird? Die Männer waren unsicher und fragten sich weiter: Ob die Menschen dort weg wollen oder weg müssen? Ob sie woanders angesiedelt werden? Auf gleichwertigen Bauernhöfen? Sie wollten doch weiterhin wie Christenmenschen leben. Dazu gehörte auch, dass man niemandem das Eigentum wegnimmt oder dem anderen etwas Böses antut.
Je mehr Meldungen über Hinrichtungen und Enteignungen der Polen erfolgten, umso größer wurde die Angst der Umsiedler, dass sie einmal dafür büßen würden, wenn sie sich jetzt in ehemals polnisches Gebiet ansiedeln ließen. Und wenn Deutschland den Krieg verlieren würde, wären sie den Polen ausgeliefert.
Die Stimmung war schlecht, die Nazis drohten. Sie gaben bekannt, dass jeder, der den ihm zugewiesenen Platz nicht übernehmen will, das Recht verliert, seinem bisherigen ausländischen Besitz entsprechend neu angesiedelt zu werden. Dass die großangelegten Ansiedlungspläne mit Städten und Dörfern, mit Schulen, Ausbildungsmöglichkeiten und Ämtern erst nach dem Krieg aufgebaut werden könnten, das war allen klar. Aber wie und wo konnten bis dahin die vielen tausend Menschen sinnvoll untergebracht werden? Mitten im Krieg und in einer vom Krieg verwüsteten Landschaft … Sie wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Heimweh machte sich breit.
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