Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer

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Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer Die Chroniken der Weltensucher

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Mal, wenn ich hier langgehe, muss ich sie mir ansehen«, fuhr Oskar fort. »Eines Tages, wenn ich mir genug zusammengespart habe, kaufe ich mir auch so etwas. Das Rapier dort oben gefällt mir am besten. Dort drüben, sehen Sie?« Er deutete mit dem Finger auf eine Waffe mit ziseliertem Griff. »Das wäre meine Traumwaffe. Ich bin sicher, damit würde ich jeden Gegner –«

      »Hast du nichts zu tun?«, knurrte der Mann ungehalten. Seine Hand umschloss den goldenen Knauf seines Spazierstocks.

      »Ach, wissen Sie, ich hab gerade Mittagspause«, sagte Oskar. »Muss nur noch diesen Ordner zur Kanzlei bringen, dann hol ich mir erst mal eine leckere Stulle.« Er klopfte mit der flachen Hand auf die Aktenmappe unter seinem Arm. In diesem Augenblick löste er mit dem Zeigefinger eine verborgene Halterung. Ein Schwall loser, sehr amtlich aussehender Dokumente ergoss sich über das Trottoir.

      »Oh, verdammt.« Er beugte er sich vor und begann, die Blätter einzusammeln, die rings um die Füße des Unbekannten verteilt lagen.

      »Kannst du nicht aufpassen?« Der Mann wollte einen Schritt zur Seite treten, aber Oskar hob die Hand. »Nein, bitte nicht. Bleiben Sie um Himmels willen stehen, sonst treten Sie womöglich noch darauf.«

      Er krabbelte um den Mann herum und klaubte die Blätter zusammen. »Könnten Sie das bitte mal kurz halten?« Er hob einen Stoß Papiere und drückte sie dem Mann in die Hand. »Bitte verzeihen Sie meine Ungeschicklichkeit. Bin gleich fertig.«

      Der Mann, überrumpelt von so viel Aktionismus, griff nach den Blättern und begann, sie zu überfliegen. Genau wie Oskar gehofft hatte. Niemand konnte der Versuchung widerstehen, vertrauliche Papiere zu lesen, besonders, wenn sie für jemand anderen bestimmt waren. In dem Moment, als er seine Augen auf die Dokumente richtete, war Oskars Zeit gekommen. Mit einer geschickten Bewegung griff er in die Manteltasche, zog das Portemonnaie hervor und ließ es in seinem Ordner verschwinden. Dann vergewisserte er sich, dass ihn niemand beobachtet hatte, griff rasch nach den restlichen Blättern und stand auf.

      »Oh, Gott sei Dank«, sagte er. »Ich habe alle wieder beisammen. Sauber und unversehrt. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn ich dem Herrn Kanzleirat verunreinigte Papiere hätte aushändigen müssen.«

      »Die sehen ziemlich wichtig aus«, sagte der Mann und gab ihm seine Unterlagen zurück. »Du solltest dich damit beeilen, ehe du noch mehr Unheil anrichtest.«

      »Jawohl, mein Herr«, sagte Oskar und verbeugte sich. »Vielen Dank, mein Herr.« Einige Schritte rückwärts gehend und sich dabei immer wieder verbeugend, sagte er: »Und bitte entschuldigen Sie meine Ungeschicklichkeit.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand in Richtung Oranienburger Straße.

      Er war noch nicht weit gekommen, als er sich zum ersten Mal umdrehte. Es war ein reiner Reflex. Er wollte sehen, ob sein Betrug unbemerkt geblieben war. Der Mann hatte sich von der Schaufensterauslage abgewendet und kam hinter ihm her. Er lief nicht, er brüllte nicht, er ging nur, und zwar im selben Tempo wie Oskar. Seine metallbeschlagenen Schuhe hinterließen ein deutliches Geräusch auf dem harten Pflaster. Sein schwarzer Mantel flatterte hinter ihm her wie die Schwingen eines Raben.

      Ein Schreck durchfuhr Oskar. Hatte der Fremde den Diebstahl bemerkt? Und wenn ja, warum rief er nicht um Hilfe? Das Verhalten war sehr ungewöhnlich. Ruhig, nur ruhig, ermahnte Oskar sich. Vielleicht hatte der Unbekannte nur zufällig seine Richtung eingeschlagen. Aber Vorsicht war bekanntlich die Mutter der Porzellankiste.

      Oskar machte einen Knick und bog rechts in die Oranienburger ab. Wie für einen Dienstag üblich war sie angefüllt mit privaten Droschken, Postkutschen, Brauereigespannen und den Wagen der Großen Berliner Pferdeeisenbahn. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das Stück zwischen der Charité und der Börse war eine der belebtesten Gegenden Berlins. Ein idealer Ort, um Verfolger abzuschütteln.

      Oskar schlängelte sich zwischen den Fußgängern hindurch, überquerte die Fahrbahn, lief etwa hundert Meter weiter und bog dann links in die Artilleriestraße ab. Hier war es etwas ruhiger. An der Ecke blieb er stehen und erlaubte sich einen weiteren Blick zurück. Er war extra zwischen möglichst vielen Fuhrwerken hindurchgelaufen. Kein Verfolger hätte in diesem Gewimmel den Überblick behalten. Trotzdem wollte er auf Nummer sicher gehen. Er blickte über die vielen Menschen hinweg, Richtung Osten.

      Es dauerte nicht lange, bis er den schwarzen Zylinder sah. Er überragte die Menschenmenge wie ein Schornstein die Dächer. Seine Augen fest auf den Jungen gerichtet, ging der Mann mit derselben Geschwindigkeit wie vorhin. Keinen Deut schneller oder langsamer. Ruhig, energisch und unaufhaltsam.

      Auf einmal wurde Oskar klar, dass dies kein Zufall sein konnte. Es war nicht mehr zu leugnen: Er wurde verfolgt. Sein mulmiges Gefühl begann sich in handfeste Panik zu verwandeln. Die Mappe unter den Arm geklemmt, eilte er weiter. Fieberhaft überlegte er, was zu tun sei. Der Mann war gefährlich, keine Frage. Aber letztendlich zählte nur, wer der Schlauere war. Oskar kannte sich hier aus wie in seiner Westentasche. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er eine Entscheidung gefällt. Gleich an der nächsten Kreuzung bog er wieder links ab. Die Ziegelstraße war eine Sackgasse, deren hintere Gebäude an das Grundstück des Schlosses Montbijou grenzten. Eigentlich eine Falle, hätte es da nicht diesen rechten Kellereingang gegeben, der stets unverschlossen war. Von hier aus führte ein geheimer Weg hoch über die Dächer zurück in Richtung Norden. Oskar hatte ihn schon oft benutzt, wenn er sich schnell und unbemerkt verkrümeln musste. Ein narrensicherer Fluchtweg. Voraussetzung war nur, dass man nicht dabei beobachtet wurde.

      Er gab Fersengeld und lief so schnell, wie es seine glatten Schuhe erlaubten, zum hinteren Teil der Straße. Als er die Kellertreppe erreichte, war er schweißgebadet. Er eilte die paar Stufen hinunter, duckte sich und warf einen kurzen letzten Blick zurück über die Schulter. Keine Spur von dem geheimnisvollen Unbekannten. Mit aller Kraft stieß er die Tür auf, zog den Kopf ein und tauchte in die Dunkelheit.

      Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sich an die Düsternis gewöhnt hatte. Der Keller war schon vor einigen Jahren aufgegeben worden und diente nur noch als Fluchtweg, falls der Haupteingang aus irgendwelchen Gründen einmal blockiert sein sollte. Außer ein paar staubigen Regalen, in denen leere Flaschen lagen, gab es hier unten nichts von Bedeutung. Durch einen schmalen Schacht sickerte ein wenig Tageslicht, das gerade ausreichte, um sich zu orientieren. Oskar durchmaß den Raum mit schnellen Schritten, öffnete die aus groben Latten gefertigte Tür am anderen Ende des Korridors und lief einen Gang entlang, von dem aus weitere Gänge in andere Keller abzweigten. Dann stand er vor der schweren Eichentür, die ins Treppenhaus führte. Eine Weile lauschte er. Alles schien ruhig zu sein. Einzig der Klang einer Violine zeugte davon, dass zumindest der brotlose Musiker zu Hause war. Oskar entschied, dass es gefahrlos war, das Treppenhaus zu betreten. Er drückte mit aller Kraft gegen die massive Holztür und schob sie auf. Ein unangenehmes Quietschen erklang. Rasch schlüpfte er durch den Spalt und eilte die Stufen hinauf. Am Bleiglasfenster im ersten Stock blieb er stehen und spähte hinunter auf die Ziegelstraße. Einige Passanten überquerten das Kopfsteinpflaster, doch von dem Mann mit dem schwarzen Umhang war nichts zu sehen. Vielleicht hatte er die Verfolgung aufgegeben. Oskar, der es nicht riskieren wollte, zur Vordertür hinauszuspazieren und ihm doch noch in die Arme zu laufen, hielt an seinem Plan fest. Auf leisen Sohlen erklomm er das hölzerne Treppenhaus. Die Stufen knarrten bei jedem Schritt. Dieser Teil des Fluchtweges war der riskanteste. Man musste immer damit rechnen, dass sich eine der Türen öffnete und ein Bewohner oder ein Mitglied des Dienstpersonals einen entdeckte. Dann half nur noch die Flucht nach vorn. Doch bisher war immer alles gut gegangen. Er kam an der Tür des Musikers vorbei. Das Gefiedel hatte etwas Trostloses, zumal der Künstler immer an derselben Stelle scheiterte. Oskar erreichte den vierten Stock. Hier befand sich der Aufgang, der zum Dachboden führte. Er öffnete die weißgestrichene Tür, schlüpfte hindurch und schloss sie leise hinter sich. Nur noch ein paar Schritte, dann war er auf dem Dachboden angelangt. Hier erlaubte er sich eine kurze Pause. Er kauerte sich neben eines der kleinen Dachfenster,

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