Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer

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Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer Die Chroniken der Weltensucher

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du mal probieren? Schmeckt sehr gut und hilft gegen Kopfschmerzen.« Sie vollführte ein paar seltsame Gesten über der Tasse, die wie Zauberei anmuteten.

      Irgendwie spürte er, dass die Frau nichts Böses im Schilde führte, und seine Panik verflog. Er nickte und ließ sich von ihr das Getränk an den Mund führen. Das Gebräu schmeckte stark, bitter und süß, ganz anders als der Tee oder der Kakao, den man in feinen Gasthäusern bekam und den Oskar mal von Hannah, dem hübschen Küchenmädchen im ›Alten Zollhaus‹, zu kosten bekommen hatte. Es weckte die Lebensgeister und beruhigte seinen Kopf.

      Gierig schlürfte er die Tasse leer. Als er fertig war, waren die Schmerzen bis auf ein winziges Druckgefühl verschwunden.

      »Gut gemacht«, sagte sie und stellte die Tasse wieder weg. »Geht es jetzt besser?«

      Er nickte.

      »Mein Name ist Eliza«, sagte die Frau. »Darf ich?« Sie deutete auf seine Fesseln. Ehe Oskar antworten konnte, löste sie seine Armschlingen und dann seine Kopf- und Fußfesseln. Sie arbeitete schnell und geschickt und im Nu war er wieder frei. Er spürte, wie das Blut in seine Hände schoss, und massierte seine Gelenke.

      »Wie heißt du?«

      Oskar schwieg. Seine Augen suchten nach einem Fluchtweg.

      »Ja, ich weiß, was du denkst.« Sie deutete auf die Bänder. »Ich muss mich für diese Behandlung entschuldigen. Sie diente nur zu deiner eigenen Sicherheit.« Sie lächelte entschuldigend. »Mein Herr ist manchmal ein wenig ungeschickt. Ich habe ihm die Menge genau vorgeschrieben, aber er musste ja gleich das Doppelte nehmen. Sei beruhigt, der Kopfschmerz dürfte gleich vorbei sein.«

      »Wo bin ich hier?« Oskar stand langsam auf. Seine Beine fühlten sich noch etwas zittrig an, aber immerhin trugen sie ihn schon wieder.

      »Im Haus meines Herrn«, lautete die Antwort. »Möchtest du ihn sehen?«

      »Wen?«

      »Deinen Gastgeber.«

      Oskar ging ein paar Schritte. »Ich weiß nicht …«

      »Er würde sich freuen, dich zu sehen.« Sie warf ihm einen aufmunternden Blick zu. »Ich weiß, dass dir das alles sehr seltsam vorkommen muss, aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Folge mir einfach.«

      Das Haus war von beeindruckender Größe. Schon allein der Speisesaal war ehrfurchtgebietend. An der Decke hing ein Kristallleuchter, der das hereinflutende Tageslicht einfing und es in tausendfaches Funkeln zerlegte. Inmitten einer Reihe sehr komfortabel aussehender Stühle stand ein Tisch, an dem bequem dreißig Leute Platz finden konnten. Wertvolle geschnitzte Vitrinen und Abstelltische zeugten vom erlesenen Geschmack des Hausherrn. Eliza legte ein zügiges Tempo vor, sodass Oskar kaum Zeit fand, die ganze Pracht zu bewundern. Schon waren sie im nächsten Raum, offenbar ein Studierzimmer. An den Wänden standen Regale, die bis unter die Decke mit Büchern gefüllt waren. Oskar trat näher und entdeckte verschiedene Zyklen aufwendig in Leder gebundener Werke. Lexika oder etwas Ähnliches. Daneben standen Bücher, bei denen es sich offenkundig um Kartenwerke und Reisebeschreibungen handelte. Bücher, auf deren Einband Windrosen, Wappen und Kontinente geprägt waren. Daneben Aberdutzende Karten aller Größen und Formen. Große, kleine, gerollte und hängende, Weltkarten, Landkarten, geologische Karten und Seekarten.

      Er begann sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Mann vielleicht doch nicht der wahnsinnige Irre war, für den er ihn gehalten hatte. Offenbar verfügte er über Bildung und ein beträchtliches Vermögen. Einen Schatz wie diesen hatte Oskar jedenfalls noch nirgends gesehen, nicht mal in der Stadtbibliothek.

      Oskar hatte eine Schwäche für spannende Erzählungen. Ritterromane, Piratengeschichten, Abenteuer in fremden Ländern. Mit Karl May hatte er sich durch das wilde Kurdistan geträumt und mit Jules Verne 20 000 Meilen unter die Meeresoberfläche. So konnte er seinem Dasein als kleiner Gauner auf den Berliner Straßen für eine Weile entfliehen. Viele Abenteuerromane erschienen in Fortsetzungen in der Berliner Illustrirten Zeitung, die Oskar bei Hannah im ›Alten Zollhaus‹ lesen konnte. Manchmal investierte er einen Teil seiner Beute in Bücher, die er zu Hause in seiner Bude lagerte. Einige hatte er natürlich auch gestohlen, aber die meisten ehrbar erworben. Bücher waren etwas, wovor er Respekt hatte, und hier gab es mehr davon, als er je in seinem Leben auf einem Haufen gesehen hatte. Auch wenn es sich um Sachliteratur handelte, so waren es doch immer noch Bücher. Was war das nur für ein Mann, der Straßenjungen entführte und so viele Bücher besaß?

      Dominiert wurde der Raum von einem gewaltigen, in einem hölzernen Rahmen befindlichen Globus. Einer Weltkugel von solch ehrfurchtgebietenden Proportionen, dass ihr Gewicht gar nicht abzuschätzen war. Gerne hätte Oskar sie in Drehung versetzt, aber die Haushälterin war schon weitergegangen und wartete in der Eingangshalle auf ihn.

      Dieser Raum war von allen der beeindruckendste. Spätestens jetzt war Oskar überzeugt, in das Haus irgendeiner hochgestellten Persönlichkeit geraten zu sein. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt und in regelmäßigen Abständen waren Kerzenhalter befestigt. Zwei mächtige, geschnitzte Holzsäulen trugen eine gewölbte Decke, die mindestens vier Meter hoch war. Auf ihr waren Naturszenen zu sehen. Berge, Wasserfälle, dichter Dschungel und weite Wüsten. Bilder, wie er sie sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen gewagt hatte. An den Wänden befanden sich präparierte Tierköpfe aus aller Herren Länder. Elefanten, Nashörner und Tiger, aber auch kleinere Tiere wie Antilopen, Schakale und Luchse. Viele kannte er aus dem Tierpark, manche waren ihm völlig unbekannt. Staunend und mit offenem Mund stand er einfach da und blickte nach oben. Offenbar hatte der Herr dieses Hauses die ganze Welt bereist. Vor seinem geistigen Auge erschien die Person des Allan Quatermain, des Bezwingers von Afrika, des Entdeckers von König Salomons Minen. Konnte es sein, dass ihn das Schicksal direkt in die Arme des Abenteuers geführt hatte?

      Oskar riss sich von dem Anblick los. Er durfte jetzt nicht unvorsichtig werden. Er war betäubt worden, entführt und gefesselt, und solange er dafür keine einleuchtende Erklärung erhalten hatte, lautete sein oberstes Ziel Flucht.

      Eine breite Eichentreppe führte in weitem Bogen nach oben. Eliza winkte ihm zu. »Komm, mein Junge. Du solltest deinen Gastgeber nicht warten lassen.« Sie nahm seine Hand und geleitete ihn in den ersten Stock. Dort, am Ende eines langen Flurs, blieben sie stehen. Sie klopfte an eine Tür, dann trat sie, ohne eine Antwort von innen abzuwarten, ein.

      Der Raum war groß und warm. Im Kamin prasselte ein Feuer. Durch die Fenster konnte man einen Blick auf Parkanlagen erhaschen. Es war Abend und hinter den Bäumen versank feuerrot die Sonne.

      Hinter einem riesigen Schreibtisch aus dunklem Kirschholz saß ein Mann, der in ein dickes, ledergebundenes Buch vertieft war. Oskar hielt den Atem an. Die wasserblauen Augen, die buschigen Brauen und die Brille gehörten unverkennbar seinem Entführer. Trotzdem wirkte er verändert. War er bei ihrer ersten Begegnung noch in düsteres Schwarz gehüllt gewesen, hatte er sich nun für eine Kombination freundlicherer Farben entschieden. Er trug eine knielange, reich bestickte Jacke aus weinrotem Samt, darunter bequeme, weite Stoffhosen und hellbraune Wildlederschuhe. Seine Haare hingen in einem Zopf über der linken Schulter. Beinahe wie bei einem Chinesen.

      Als sie eintraten, hob der Mann den Kopf. Mit einem Knall schlug er das Buch zu und schob es auf die Seite. »Komm rein«, sagte er mit einer Stimme, die zwar immer noch barsch klang, aber deutlich freundlicher als noch vorhin auf der Straße. »Ich sehe, du bist wieder wohlauf? Gut so.« Er räusperte sich und ging zu einem Schrank hinüber, in dem etliche Flaschen aufgereiht standen. »Was möchtest du? Wasser? Tee? Vielleicht einen Branntwein?« Er blickte kurz zu Eliza hinüber, die entschieden den Kopf schüttelte. »Nein, keinen Branntwein. Milch. Wie wäre es mit einem Glas Milch?«

      Oskar

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