Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer

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Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer Die Chroniken der Weltensucher

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betrifft: Viele Legenden haben irgendwo einen wahren Kern.« Der Forscher zuckte die Schultern. »Wir werden es allerdings kaum herausfinden, wenn wir uns nicht die Mühe machen, selbst nachzuschauen, nicht wahr?«

      Oskar war nicht überzeugt. »Das ist ganz bestimmt nur ein Märchen. Solche Geschichten gibt es zuhauf. Können Sie es sich denn leisten, jeder Legende nachzugehen?«

      »Natürlich nicht.« Auf Humboldts Gesicht erschien ein verschmitzter Ausdruck. »Es gibt da allerdings eine Sache, die du dir ansehen solltest. Warte mal, ich zeige sie dir.« Er zog eine Schublade auf und wollte gerade hineingreifen, als Oskar hochschrak. Er hatte eine Bewegung im hinteren Teil des Laboratoriums bemerkt. Es war nur ein Schatten gewesen, nicht größer als ein Hund, aber er hätte schwören können, dass es auf zwei Beinen lief. »Was ist das?«

      Angestrengt spähte er in die Schatten, konnte aber nichts entdecken. Er glaubte schon, sich getäuscht zu haben, als er die Bewegung erneut bemerkte. Diesmal auf der linken Seite und viel dichter dran. Jetzt konnte er auch ein Geräusch hören: das Klappern von hornigen Zehen auf Steinplatten. Die seltsame Erscheinung schien den Schatten der Tische dazu zu nutzen, sich unbemerkt zu nähern. Oskar schob seinen Stuhl zurück. Das war definitiv kein Hund. Es war auch keine Katze oder Ratte. Es war etwas gänzlich anderes.

      »Nur keine Angst«, sagte Humboldt. »Das ist nur Wilma. Sie will uns einen Besuch abstatten.«

      Die Kreatur war jetzt ganz nah. Langsam schob sie sich ins Licht. Ein langer Schnabel, wache, kluge Augen, ein stumpfer Körper und riesige Füße. Oskars Augen wurden groß wie Murmeln.

      Das Wesen drehte den Kopf, musterte ihn eingehend und gab dann ein fragendes Quieken von sich.

      Humboldt holte eine kleine Dose aus einem der Regale, öffnete sie und warf dem Wesen etwas in den Schnabel. Dann ging er vor ihm in die Hocke und streichelte ihm über den Kopf.

      Oskar vergaß vor Verblüffung, den Mund zu schließen. »Das ist ein Kiwi«, stammelte er.

      Der Forscher hob erstaunt die Augenbraue. »Ganz recht. Eine in Neuseeland heimische Zwergstraußenart. Du kennst dich aber gut aus.«

      »Brehms Tierleben«, sagte Oskar. »Ich habe mal ein paar Seiten daraus in irgendeiner Illustrierten abgebildet gesehen. Ich habe mir nie vorstellen können, dass so ein Wesen tatsächlich existiert.«

      »Oh, der Kiwi existiert«, sagte Humboldt. Er warf ihm noch einen Happen in den Schnabel. In der Dose waren irgendwelche Insekten. Käfer oder so. »Er ist der kleinste flugunfähige Laufvogel der Welt. Der Name dieses Prachtexemplars ist Wilma und sie ist ein Mädchen. Eigentlich ist der Garten ihr Revier, aber wenn sie merkt, dass ich hier unten bin, kommt sie mich besuchen. Sie hat einen eigenen Eingang dort hinten. Sie ist sehr klug. Willst du sie mal streicheln?«

      Oskar streckte die Hand aus. Der Kiwi pickte kurz danach, doch als Oskar nicht zurückzuckte, ließ er sich widerstandslos am Kopf kraulen.

      »Siehst du, sie mag dich. – So, genug gespielt, Wilma«, sagte Humboldt und gab dem Vogel einen Schubs. »Ab mit dir in den Garten, Insekten fangen. Husch, husch.« Der Vogel gab ein grunzendes Geräusch von sich und rannte dann schnurstracks in den hinteren Teil des Laboratoriums, von wo er gekommen war.

      »Niedlich.« Oskar hatte seinen anfänglichen Schrecken überwunden. Dieses Haus steckte wirklich voller Überraschungen.

      »Vor allem ein guter Aufpasser«, sagte Humboldt. »Besser als jeder Hund. Sie sieht zwar nicht gut, dafür hört und riecht sie umso besser. Außerdem ist sie nachtaktiv und kann einen Heidenspektakel machen, sollte jemand versuchen, auf das Grundstück zu kommen. Aber jetzt weiter. Erinnerst du dich, ich wollte dir etwas zeigen.« Er griff in die Schublade und zog einen Gegenstand heraus, der in mehrere Lagen Stoff gehüllt war. Er wickelte ihn aus und hob ihn hoch. Oskars Blick fiel auf eine flache, stumpf glänzende Kupferplatte. Etwa fünfzehn Zentimeter lang und zwanzig Zentimeter breit. Nicht viel mehr als ein Blech. Das Ganze sah recht ramponiert aus. Die obere Ecke war abgebrochen und es befanden sich überall Kratzer und Einschläge darauf. Die eine Seite war von einer dunklen Schicht überzogen, die im Licht der Lampe merkwürdig fleckig wirkte.

      »Das ist alles?« Oskar war enttäuscht. Nach all den Ankündigungen und der Vorfreude hatte er mit etwas wirklich Sensationellem gerechnet. Doch von allen Dingen, die er hier unten gesehen hatte, war dies bei weitem das unspektakulärste.

      »Das, mein junger Freund, ist die Wiege der Rätsel.« Humboldts Augen leuchteten vor Aufregung. »Der größte Schatz, den ich hier unten aufbewahre.«

      »Das soll ein Schatz sein? Das ist doch nur ein Stück Blech.«

      »Es ist eine fotografische Platte«, sagte der Forscher. »Ich weiß nicht, ob du so etwas schon einmal gesehen hast. Vor einigen Jahren war es das übliche Verfahren, um Bilder dauerhaft auf ein Metallblech zu bannen. Es ermöglicht eine genaue, um nicht zu sagen exakte Darstellung der betreffenden Szene. Dies ist eine authentische Wiedergabe der Wirklichkeit, ein Betrug ist daher so gut wie unmöglich. Die Kameras waren sehr schwer und klobig, weshalb man in jüngerer Zeit dazu übergegangen ist, Fotos auf Filmmaterial zu belichten.«

      »Ich erkenn da gar nichts.«

      »Du musst sie im richtigen Winkel zum Licht halten. Hier, probier es am besten selbst aus. Aber vorsichtig, sie ist von unschätzbarem Wert.« Humboldt reichte ihm die Platte. »Eigentlich ist diese Technik veraltet«, fuhr er fort. »Wer immer diese Aufnahme gemacht hat, muss jemand sein, dem es gelungen ist, die Kamera auf ein handliches Format zu verkleinern. Ein Spezialist vermutlich.«

      Oskar nahm das Metallblech und hielt es schräg gegen das Licht. Plötzlich erkannte er etwas. Ein Bild erschien. Es war völlig farblos, besaß aber trotzdem Tiefe und Details. Die Darstellung war so fein, dass man jeden Stein und jeden Grashalm erkennen konnte. Messerscharf ragte ein Zweig durchs Bild, an dem fächerartige Blätter hingen. Dahinter waren Häuser zu sehen. Merkwürdige Gebäude, die wie Wespennester aussahen und die, wie es schien, in eine Felswand hineingebaut worden waren. Strickleitern verbanden sie miteinander, während Hängebrücken die größeren Abgründe überspannten. Das Überraschendste aber waren die dunklen Flecken. Was Oskar anfangs für Wolken gehalten hatte, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als Luftfahrzeuge. Schiffe, Boote und zigarrenförmige Ballons, große und kleine, wohin das Auge reichte. Manche von ihnen hatten entfernte Ähnlichkeit mit Libellen, andere mit Schneeflocken, wieder andere waren völlig fremdartig. Sie alle waren bemannt und schwebten durch die Luft wie die Samen einer Pusteblume. Oskar lief ein Schauer über den Rücken. Es kostete ihn einige Mühe, sich von dem Anblick loszureißen.

      »Faszinierend, nicht wahr?« Der Forscher nahm die Platte wieder an sich, schlug sie in die Tücher und legte sie zurück ins Fach.

      »Wo haben Sie die her?«, fragte Oskar.

      Humboldt deutete auf einen Fluss. »Gerüchten zufolge befand sie sich in einer Ledertasche, in der noch mehr von den Platten waren. Sie wurden an einen Sammler unbekannter Herkunft verkauft. Es war ein Riesenglück, dass ich überhaupt an diese eine gekommen bin. Gefunden wurde sie in einem Fluss namens Camaná.« Er tippte auf die Karte. »Er entspringt hier oben in den Bergen und durchquert das Gebiet des Cañón del Colca. Die Aufnahme muss also irgendwo hier gemacht worden sein.« Er umkreiste ein Gebiet von der Größe eines Daumennagels. »Ich werde demnächst dorthin aufbrechen und ich möchte, dass du mich auf dieser Reise begleitest. Betrachte es einfach als eine Art Bewährungsprobe. Entwickelt sich alles zu meiner Zufriedenheit, bekommst du von mir eine feste Stelle angeboten. Wenn nicht … nun, dann trennen sich unsere Wege. Was hältst du von dem Vorschlag?«

      Oskar hörte nur mit halbem Ohr hin.

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