Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer

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Die Stadt der Regenfresser - Thomas Thiemeyer Die Chroniken der Weltensucher

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in den Rücken einer Kuh. Es war ihm unmöglich, es wieder abzuschütteln.

      »Wann geht es los?«, murmelte er gedankenverloren.

      »Unser Schiff startet in zehn Tagen.«

      4

      Zur selben Zeit in New York …

      Der Zweispänner raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit entlang Manhattans 5th Avenue in Richtung Central Park. Die Pferde hatten Schaum vor dem Maul und ihre Flanken glänzten vor Nässe. Der Mann auf dem Kutschbock scherte sich keinen Deut um die Protestrufe der Passanten und die Flüche der Kutschenbesitzer, die Mühe hatten, ihre Pferde im Zaum zu halten. Immer wieder ließ er die Peitsche knallen, während er seine Tiere zu noch mehr Eile anfeuerte.

      Endlich tauchte das Gebäude des Global Explorer an der Kreuzung zur 58th East auf. Das Firmenlogo in Form eines gigantischen X schimmerte hoch über den anderen Dächern im Licht der Morgensonne. Zehn Flaggen, die eine Weltkugel, umrahmt von dem Firmenslogan ›Xplore the world in one day‹, zeigten, flatterten in der frischen Brise, die vom Hudson herüberwehte.

      Max Pepper war spät dran. Sein Chef, der Firmengründer und Zeitungsmogul Alfons T. Vanderbilt, war kein Mann, den man warten ließ. Er hatte die Pforten des Sitzungszimmers, in dem an diesem Nachmittag Punkt 17 Uhr eine außerordentliche Redaktionssitzung stattfinden sollte, bereits vor fünf Minuten öffnen lassen. In weiteren fünf Minuten würden sich die Türen, die zum Sitzungssaal führten, unwiederbringlich schließen. Waren sie erst einmal zu, öffneten sie sich erst wieder, wenn Vanderbilt es erlaubte. Und Gnade demjenigen, der nicht rechtzeitig da war. Max hatte schon erlebt, dass Leute, die eine wirklich gute Entschuldigung hatten, gefeuert wurden, nur weil sie drei Minuten zu spät kamen. Max hatte keine Entschuldigung außer der, dass seine Frau mit einer Grippe das Bett hütete und er seine Tochter noch zum Klavierunterricht hatte bringen müssen. Gewiss, er hätte sich noch schnell etwas ausdenken können, aber Vanderbilt roch es, wenn jemand ihm Lügen auftischte. Seine einzige Chance bestand darin, noch vor Schließen der Türen in diesen Saal zu gelangen.

      Wie ein Wahnsinniger fuhr er auf den Abstellplatz vor dem Verlagsgebäude, bremste, klemmte seine Aktentasche unter den Arm, sprang aus der Kutsche, schleuderte dem Wachmann die Zügel in die Hand und raste die Treppenstufen empor. Die Glocken der nahe gelegenen Saint Thomas Church schlugen bereits. Seine Ledersohlen klackerten über den Marmorfußboden, während er mit weiten Schritten die Eingangshalle durchquerte, um dann die Treppen zum ersten Stock emporzuhasten. Als er den Gang zum Westflügel erreichte, sah er mit Schrecken, dass Winkelman sich bereits anschickte, die Türen zu schließen.

      Aloisius Winkelman war Vanderbilts persönlicher Hausdiener, ein Relikt aus den Gründerjahren. Er sah aus, als habe er sein ganzes Leben in staubigen Archiven und leeren Korridoren verbracht. Ein Mann, so grau und schrumpelig, dass man glauben konnte, eine in Formaldehyd konservierte Leiche vor sich zu haben.

      »Halt!«, brüllte Max, doch der Hausdiener fuhr völlig ungerührt mit der Schließung der Tür fort. Das Dröhnen, mit dem der erste Flügel sich schloss, hallte durch den Korridor. Entweder war Winkelman taub oder sadistisch. Vermutlich beides. Max bemerkte, wie ein schales Lächeln seinen Mund umspielte, als er sich anschickte, auch noch den zweiten Flügel zu schließen.

      Max mobilisierte seine letzten Reserven und schoss halb laufend, halb schlitternd durch den Spalt, der rasch immer schmaler wurde. Dann war er durch. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Max versuchte zu stoppen, geriet jedoch ins Rutschen und krachte gegen den Kartenständer. Einige der mannshohen Kartenrollen fielen heraus und landeten scheppernd auf dem Boden. Max beeilte sich, sie wieder einzuräumen, sortierte sie, so gut es ging, und drehte sich dann um. Im Saal war es totenstill. Kein Scherz, kein Kommentar, nur anklagendes Schweigen. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Sechzehn Redakteure, die meisten von ihnen in der Vorstandsetage des Global Explorer, beäugten ihn misstrauisch durch ihre vernickelten Brillen. Fast alle von ihnen waren älter als Max und trugen ihre Standesabzeichen – dunkle Anzüge, gezwirbelte Bärte und grau melierte Haare – mit großer Würde. Mit den kirschholzgetäfelten Wänden und marmornen Büsten im Hintergrund sahen die Herren aus, als würden sie für ein Gemälde posieren.

      Vom Turm der Kirche drang der letzte Glockenschlag herüber. Alfons T. Vanderbilt, der am Kopfende des langen Tisches saß, hob seinen Hammer und klopfte dreimal auf die Gummiablage. Max beeilte sich, seinen Platz einzunehmen. Erst jetzt merkte er, wie sehr ihn die Anstrengung mitgenommen hatte. Kurzatmig und mit wackeligen Knien ließ er sich auf seinen Stuhl fallen. Mit fahrigen Bewegungen strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und prüfte den Sitz seiner Krawatte.

      »Meine sehr verehrten Vorstandsmitglieder, liebe Redakteure.« Vanderbilts Stimme war voll und wohltönend. »Ich begrüße Sie zur ersten außerordentlichen Sitzung in diesem Jahr.« Er sandte einen kurzen, aber ehrfurchtgebietenden Blick in die Runde. »Mit Vermerk des heutigen Datums, des 18.April 1893, möchte ich die Vollzähligkeit des Redaktionsstabes festhalten. Das Komitee ist hiermit abstimmungsberechtigt.«

      Der Stift des Protokollführers kritzelte laut vernehmbar über das Papier des Sitzungsbuchs. Während Max sich noch fragte, worüber denn abgestimmt werden sollte, wuchtete sich Alfons T. Vanderbilt aus seinem Sessel und ging zur Kartenwand hinüber. Jedes Mal, wenn Max seinen Chef sah, schien dieser noch ein paar Kilo zugenommen zu haben. Sein Leib glich mittlerweile einem mit Gänsedaunen ausgestopften Kopfkissen, auf dem ein kleiner Kürbis thronte. Die weißen Haare waren dünn und kurz geschnitten, sodass die gerötete Kopfhaut durchschimmerte. Von hinten betrachtet sah der Firmenchef aus wie ein riesenhaftes Baby, das man in einen Anzug gestopft hatte. Vanderbilt griff nach einem Zeigestab aus Bambus, ging zur topografischen Übersichtskarte von Südamerika und ließ den Stab auf die Andenregion knallen. Alle sechzehn Redakteure einschließlich Max zuckten zusammen.

      »Peru«, sagte Vanderbilt und richtete seine stechenden Augen auf Max. »Ihr Ressort.«

      Der Redakteur erwiderte Vanderbilts Blick mit ungutem Gefühl. Täuschte er sich, oder war es hier plötzlich wärmer geworden?

      Er starrte auf die Karte. Die untere Hälfte von Amerika gehörte zu seinem redaktionellen Zuständigkeitsbereich. Der Global Explorer war eine wöchentlich erscheinende Publikumszeitschrift, die sämtliche Bereiche der Naturwissenschaften umfasste. Von Expeditionen in unbekannte Länder über die neuesten Errungenschaften in Medizin und Technik bis hin zur Entdeckung neuer Tierarten. Es gab kein Thema, das nicht ausführlich und mit größtmöglicher wissenschaftlicher Seriosität behandelt wurde. Natürlich fanden sich auch immer wieder mal Beiträge, die sich über kurz oder lang als Märchen entpuppten, aber die Leser liebten diese Geschichten. Beiträge über Seemonster, Dinosaurier und Schneemenschen gehörten ebenso zum Erscheinungsbild des Explorer wie Berichte über versunkene Hochkulturen und rätselhafte Weltreiche. Doch seit einiger Zeit wehte ein frischer Wind in der Verlagsszene. In Washington war eine neue Gesellschaft gegründet worden. Eine Vereinigung, die sich rühmte, die größte geografische Gesellschaft der Welt zu sein, und die mit ständig wachsenden Mitgliederzahlen protzte. Ihr monatlich erscheinendes Fachmagazin erfreute sich großer Beliebtheit und schickte sich an, dem Explorer den Rang abzulaufen. Sein Name war National Geographic Magazine.

      Max schluckte. »Was ist mit Peru?«

      »Wann haben Sie zuletzt etwas von Boswell gehört?«

      Max blickte verwundert. Harry Boswell war ein Fotograf, der im Auftrag des Global Explorer die Andenregion erkundete. Seine Reise dauerte nun schon über ein Jahr. In regelmäßigen Abständen verfasste er Reiseberichte und schickte diese zusammen mit seinen Aufnahmen an das Verlagshaus in New York. Bisher waren seine Berichte mit größter Regelmäßigkeit eingetroffen, doch seit etwa drei Monaten hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Kein Brief, kein Paket, kein Telegramm.

      Max

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