Der böse Trieb. Alfred Bodenheimer
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Rabbi Israel Salanter und seine Schüler. Das sind meine Leute, Herr Rabbiner Klein.
Die Mussar-Bewegung? Eine anspruchsvolle Schule.
Ja, genau das gefällt mir. Dienst am Oibersten durch tiefste Selbstprüfung. Du und deine freie Wahl gegen die Lust und den Trieb, dich über andere zu erheben. Du hast deine Selbstvervollkommnung in der eigenen Hand. Kein metaphysischer Hokuspokus. Kein Erlebnisjudentum. Kein Disneygott.
Disneygott! Sie gebrauchen vielleicht Worte!
Sie wissen, was ich meine. Allzeit wunderbereit.
Allmächtig nannte man das früher.
Gegen allmächtig hab ich nichts. Das Allmächtige hat auch Rabbi Israel beschäftigt. Aber von menschlicher Seite her gefällt mir am Mussar dieses nach innen Gewendete.
Und wie steht Ihre Frau dazu?
Meiner Frau gefällt, wenn ich schön den Schabbes halte, koscher esse und während der Nida-Zeit meine Hände von ihr lasse. Das tue ich zwar schon lange, seit bei ihr diese religiöse Umkehr eingesetzt hat. Aber nun habe ich wenigstens einen geistigen Überbau. Mussar eben.
Immer im Kampf gegen den bösen Trieb.
Sehen Sie, eigentlich ist es ganz einfach: Sie versuchen, das Ich mit dem Über-Ich in Übereinstimmung zu bringen und damit dem Es den Meister zu zeigen. Und das Über-Ich nennen Sie Gott.
Gott oder Sonja?
Vor Sonja nenne ich es Gott.
Ich glaube nicht, dass Rabbi Israel Salanter große Freude an Ihnen gehabt hätte. Der meinte immer Gott.
Ich bin am Anfang.
Über diesen Satz allerdings hätte sich Rabbi Israel gefreut.
Das wiederum freut mich. Und wissen Sie, wer mich überhaupt mit der Mussar-Bewegung bekannt gemacht hat? Ein Landsmann von Ihnen. Ebenfalls aus Zürich.
Keine Ahnung.
Anschel Fink. Sie kennen ihn, er war ja auch bei diesem Wochenende in Arosa. Wir sind in Kontakt geblieben.
Ein origineller Typ.
Hochintelligent.
Arbeitet als Anwalt in Zug, wenn ich mich nicht irre.
So ist es. Rohstoffsachen, viel Genaueres weiß ich auch nicht. Aber er hat mir gezeigt, dass du richtig religiös sein und dennoch mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität stehen kannst.
Das hätte ich für mich auch gerne in Anspruch genommen.
Rabbiner laufen außer Konkurrenz.
Berufsjuden, meinen Sie. Und Anschel Fink ist also auch ein Mussar-Vertreter?
Ja, und wie. Ich meine, der kennt ja auch die ganzen Schriften von Salanter und seinen Adepten. War jahrelang in der Jeschiwa. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich da eingeführt hat. Ich war schon kurz davor, alles fahren zu lassen. Diese Salbadereien von Kletzki und Konsorten, das kotzt einen ja nur noch an.
Herr Ehrenreich, nun wollen wir doch aber versuchen, in Richtung Tschuwa zu gehen. Es ist Anfang Elul. Deswegen sind Sie doch hier.
Sehen Sie, deswegen verehre ich Sie, Herr Rabbiner. Sie lassen sich nie von Ihren Emotionen forttragen.
Wenn Sie wüssten, Herr Ehrenreich, wenn Sie wüssten!
3
Es dauerte bis Montag, über eine Woche nach seinem Tod, bis Viktor Ehrenreich zu Grabe getragen werden konnte. Rabbiner Bunem Kletzki strich unentschlossen auf dem Friedhof herum, immer den Eindruck erweckend, er habe hier oder da noch dringend etwas zu erledigen, mit dem Gärtner zu reden, einen Schrank in der Abdankungshalle auf seinen Inhalt zu prüfen und so weiter. Sonja hatte ihn einfach ignoriert. Dennoch konnte sie ihm insgeheim dankbar sein; es waren so wenige Leute anwesend, dass ohne ihn kein Minjan zustande gekommen wäre, um den Kaddisch für den Verstorbenen zu beten.
Sonja kam Klein vor, als stehe sie unter Medikamenteneinfluss. Sie strömte eine Gelassenheit, ja beinahe Heiterkeit aus, die ihn befremdete. Anders als an dem Abend, als er sie trostlos zu Hause vorgefunden und dann wieder zurückgelassen hatte, wirkte sie nun geradezu elegant. Sie trug ein beinahe exquisites Kleid, das durch den obligaten Einriss in Kragenhöhe, den die Tradition von Trauernden forderte, noch eigenartiger wirkte, und wieder den berückenden schwarzen Scheitel, mit dem er sie in Arosa kennengelernt hatte. Natürlich war sie, dem Brauch folgend, ungeschminkt, aber sie schien zugleich den Eindruck erwecken zu wollen, dass das Leben für sie weiterginge.
Unter den nichtjüdischen Trauergästen, wohl hauptsächlich ein paar Lehrerkolleginnen und treue Zahnarztpatienten, versuchte Klein jemanden auszumachen, der wie ein Kommissar oder eine Kommissarin aussah. Von Karin Bänziger in Zürich wusste er, dass sie öfter die Beerdigung von Mordopfern besuchte, weil sie sich Aufschluss über die Tat erhoffte, aber wer konnte wissen, ob das die hiesige Polizei ebenso hielt?
Das einzige ihm bekannte Gesicht außer Sonja und Kletzki war Anschel Fink. Als Fink in die Abdankungshalle trat, gaben sie einander gemessen Handzeichen. Fink hatte angeboten, ihn von Zürich mit dem Wagen mitzunehmen, aber Klein hatte es vorgezogen, mit der Bahn zu kommen und sich unterwegs nochmals auf die Trauerrede zu konzentrieren. Viktors Tod, sein gewaltsamer, schrecklicher und früher Tod ließ ihn nicht los. Das Anhören der Gesprächsaufnahmen in den letzten Tagen, oder zumindest einiger von ihnen, hatte ihn noch zusätzlich mitgenommen. Es war irgendwie beklemmender, die Stimme eines Verstorbenen zu hören, als sein Bild zu sehen. So viele Details ließen sich aus der Stimme heraushören, Zärtlichkeit, Angst, Trauer, Freude, dass es Klein vorgekommen war, als säße Viktor tatsächlich wieder vor ihm. Er hatte selten so lange gebraucht, um eine Totenrede vorzubereiten. Darauf, Sonja nach weiteren Details von Viktors Leben zu fragen, hatte er verzichtet. Die Aufnahmen lieferten ihm so viel Information, dass Klein eher überlegen musste, was er verschweigen, als was er erzählen sollte.
Als er neben dem aufgebahrten Sarg stand, die kleine Trauergemeinde zu Füßen des kleinen Stehpults sitzend, steckte er seine Notizen ein und sprach frei.
»Wir sind hier zusammengekommen, um uns von einem außergewöhnlichen Menschen zu verabschieden, der leider auf verachtenswerte Weise ums Leben gebracht worden ist. Viktor Ehrenreich, in St. Petersburg geboren, in Berlin aufgewachsen und hier an der Grenze des Schwarzwalds ansässig geworden, war ein Mann, der immer genau wusste, was er wollte – und der das auch tat. Er wollte,