Reisen. Helon Habila

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Reisen - Helon  Habila

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ist das genaue Gegenteil meines Vaters. Ich bin nie wieder nach Hause gegangen. Er war derjenige, der vorschlug, ich solle ins Ausland gehen und dort weiterstudieren. Er hat mich mit seinem Freund am Goethe-Institut in Johannesburg verdrahtet. Ich schrieb mich dort für einen Deutschkurs ein und bewarb mich für ein Stipendium, damit ich hier weiterstudieren konnte. Eins ergab einfach das andere.“

      „Hast du je daran gedacht, zurückzugehen?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln. „Hin und wieder. Meine Mutter fehlt mir. Und mein Onkel und seine Frau, deren Kinder, meine Geschwister. Aber ich und Rückkehr – eher nicht. Zumindest nicht in nächster Zeit.“

      Ich wollte auf das, was der Anwalt gesagt hatte zu sprechen kommen, doch zu meiner Überraschung sagte Mark, er müsse jetzt gehen.

      „Wie, du gehst jetzt?“

      „Schau mal, ich bin mir nicht sicher, ob deine Frau es so gut findet, dass ich hier bin. Ich habe das schon letzte Nacht gemerkt. Und heute früh hat sie nicht mal auf mein Guten Morgen reagiert.“

      Ich entschuldigte mich. „Aber du musst wirklich nicht gehen. Gina ist momentan einfach nur mit den Gedanken woanders …“

      „Schon gut“, sagte er. „Ehrlich. Ich weiß zu schätzen, was du alles für mich getan hast.“

      Ich kam mir wie Judas vor, als ich Mark zur Bushaltestelle begleitete, war aber gleichzeitig auch erleichtert, ein Gefühl, das ich zu unterdrücken versuchte. Er meinte, er könne bei Freunden unterkommen und wenn das nicht klappe, gebe es immer noch das Flüchtlingsheim. Ich umarmte ihn, eine Judasumarmung, und sah ihm nach, wie er durch eine Verkehrslücke rannte, wobei der Wind seine alberne Jacke hochwehte. Während der letzten Wochen hatte er abgenommen. Er erwischte den M400-Bus und als dieser losfuhr, sah ich Mark am Fester des Oberdecks winken. Mit bleierner Hand winkte ich zurück und schleppte mich schweren Herzens nach Hause. Alles veränderte sich. Das Laub an den Bäumen, die Kleider in den Schaufenstern. In der Luft lag eine fast kaum wahrnehmbare Kühle. Ich dachte an zu Hause und den Harmattan im November, der mich fast immer krank gemacht hatte, meine Mutter meinte, das sei, weil mein Körper auf den Wechsel der Jahreszeiten reagiere. Unsere Körper wollten, träge wie sie seien, immer am Gewohnten festhalten. Ich hatte mit meiner Mutter schon länger nicht mehr telefoniert. In meiner Anfangszeit in Amerika rief ich sie jeden Sonntag an, verplauderte Fünf-Dollar-Telefonkarten, der Hörer wurde an meinen Vater weitergereicht, an meine Schwester und beide Brüder. Eigentlich sollte ich nach meiner Dissertation heimkehren, doch dann traf ich Gina und aus Tagen wurden Monate, aus Monaten Jahre und dann hörte ich auf, daheim anzurufen. Bei meinem letzten Anruf vor einem Jahr, hörte sich meine Mutter derart distanziert an, als würde sie mit einem Unbekannten übers Wetter reden. Ich reichte den Hörer an Gina weiter, aber meine Mutter hatte Probleme, Ginas amerikanischen Akzent zu verstehen, daher dauerte der Anruf nur wenige Minuten. Ich dachte daran, wie es gewesen war, bevor Gina schwanger wurde. Abends saßen wir oft auf dem Balkon, tranken Weißwein und beobachteten den leeren Parkplatz auf der anderen Straßenseite, die Kinder, die auf ihren Skateboards über den Asphalt tretrollerten, den Gehweg entlangdonnerten, mit den an ihren Schuhsohlen festklebenden Brettern hoch in die Luft sprangen, jedes erfolgreiche Kunststückchen mit einem High-five feierten. Ich war so gedankenversunken, dass ich in eine Frau hineinrannte, die eine Schaufensterauslage betrachtete, kurz darauf in einen Mann. Ich war zum ersten Mal in dieser Straße, kannte weder die Namen der Läden noch eventuelle Sehenswürdigkeiten. Der Mann war hochgewachsen und trug eine modische Lederjacke. Er fasste mich am Ellbogen und rüttelte mich aus meiner Tagträumerei. „He, pass auf!“ Ich nickte und ging weiter.

      9

      Eine Woche nachdem ich Mark zur Bushaltestelle begleitet hatte, wurden meine Fragen beantwortet. Es war der Tag, an dem Ginas Vernissage in der Zimmer-Galerie stattfand, die irgendwo in der Karl-Marx-Straße lag. Gina hatte sich damals jeglichen Kommentar verkniffen, als sie zurückkam und Mark nicht mehr da war. Unser Leben nahm seinen normalen Rhythmus auf. Wir gingen Abendessen, besuchten Ausstellungseröffnungen, Lesungen und Darbietungen von Ginas Künstlerkollegen. Sie sah glücklich aus, als sie die Besucher von Gemälde zu Gemälde führte, Fragen zu Farbe, Technik und Konzept beantwortete. Im Hintergrund lief getragene Instrumentalmusik, sämtliche Zimmer-Künstlerkollegen waren gekommen. Die Vernissage würde sich über den ganzen Tag erstrecken. Ich stand in einer Ecke, versuchte, mich nützlich zu machen, plauderte mit Julia, der Zimmer-Direktorin, einer großen, schlanken, bescheidenen Frau, mit ihrem Lebensgefährten Klaus, einem Brocken von Mann, der den Riesling hinunterkippte wie Wasser. Ich war seit drei Stunden da, ich war müde und hungrig und überlegte, ob ich irgendwo essen gehen sollte. Ich brauchte etwas Handfesteres als das angebotene Fingerfood und wollte Gina fragen, ob sie mich begleiten würde. Da kam in Begleitung dreier Personen ein Mann herein, der mir bekannt vorkam. Er erkannte mich gleichzeitig, löste sich aus seiner Gruppe und kam herüber. Es dauerte kurz, bis ich ihn einordnen konnte. Es war Julius, der Anwalt. In Jeans und T-Shirt sah er anders aus. Das hier sei die Vernissage meiner Frau, erklärte ich ihm.

      Er sah beeindruckt aus. „Meine Lebensgefährtin hat mir von der Ausstellung erzählt.“ Er deutete auf eine der jungen Frauen, die Jeans und Bomberjacke trug. „Übrigens hätte ich Sie morgen angerufen. Ich muss mit Mark reden. Wohnt er noch bei Ihnen?“

      „Nein. Alles in Ordnung?“

      „Ich muss mit ihm reden. Es geht um seine Visumsverlängerung.“

      „Er wohnt schon seit längerem nicht mehr bei uns, aber ich kann es ihm ausrichten. Ich kann ihn finden, wenn es nötig ist.“

      Der Anwalt zögerte. „Es ist tatsächlich dringend … ich habe erst heute erfahren, dass sein Visum leider nicht verlängert wurde.“

      „Oh, das tut mir leid.“

      „Können Sie ihm das bitte ausrichten?“

      „Klar.“

      Schon im Gehen sagte er: „Eigentlich geht es mich nichts an, aber … Sie wissen, dass sein richtiger Name Mary ist? Das wussten Sie bestimmt schon, Sie sind ja gut befreundet.“

      Verdattert starrte ich ihn an. Mary?

      „Er ist eine Frau, vielmehr sie ist eine Frau. Mary Chinomba.“

      Mark war eine Frau? „Sind Sie sicher?“ Mehr brachte ich nicht heraus.

      „Selbstverständlich, schließlich habe ich ihre Papiere gesehen. Sie sehen so erstaunt aus – Sie wussten es also nicht.“

      10

      Meine Anrufe bei Mark landeten direkt bei einer Stimme, die mir knapp auf Deutsch beschied, ich solle bitte eine Nachricht hinterlassen. Nach einer Weile nahm die Mailbox keine Nachrichten mehr auf. Ich rief Lorelle an, die Mark zwar ebenfalls seit einiger Zeit nicht mehr gesehen, aber gehört hatte, er sei in einem Heim in der Nähe des Görlitzer Bahnhofs untergebracht. Wir trafen uns beim Bahnhof und gingen gemeinsam zum Flüchtlingsheim. Wir kamen an leerstehenden, verfallenen Gebäuden vorbei, deren Fassaden blau-grün-schwarze Graffiti zierten, an Geschäften, deren Rollladentüren dauerhaft geschlossen waren; wir gingen an dubiosen Eckläden vorbei, aus deren schmalen Türen Betrunkene mit Six-Packs unterm Arm heraustaumelten, die Bierbäuche hingen ihnen über den Hosenbund, an schnurrbärtigen Türken, die unter Sonnenschirmen Shisha rauchten und landeten in einer komplett verwaisten Straße, an deren Ende sich ein Zaun befand, an dem das Gras hochwucherte.

      „Warst du schon mal hier?“, fragte ich Lorelle. Sie schüttelte den Kopf. Wir bogen um die Ecke in die nächste Straße, die bis auf zwei Männer ebenfalls

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