Reisen. Helon Habila

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Reisen - Helon  Habila

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sie gierig aus ihren Bierdosen schlürften, folgten uns ihre Blicke, bis wir um die nächste Ecke verschwanden. Das Flüchtlingsheim war eine ehemalige Schule, den meisten Fenstern fehlten die Scheiben und im vermüllten Hof wucherte das Gras. Vom geöffneten Tor führte ein breiter Weg zu einem großen, grauen Betonklotz. Auf einer Seite der Einfahrt stand ein weiteres, kleineres Gebäude, wohl ein ehemaliges Wachoder Dienstgebäude, jetzt waren die Fenster mit Sperrholz vernagelt, das sich durch Regen und Sonne schwarz verfärbt hatte und abblätterte. Vor der Tür standen vier Männer, drei Schwarze und ein Asiate, und unterhielten sich leise. Sie starrten lange auf Lorelles Haar und Piercings, musterten dann mich. Einer von ihnen, der über den Dreadlocks ein rot-gelb-grün-schwarzes Rasta-Beanie trug, nickte mir zu und ich nickte zurück. Vor dem Eingang des Hauptgebäudes stritt sich ein Haufen Männer; sie waren unrasiert, schmutzig und eindeutig betrunken. Bei unserem Anblick sahen sie auf und einer von ihnen, der einzige Schwarze, entfernte sich. Der Gestank erschlug uns, noch bevor wir das Gebäude betraten: durchdringend, feucht und ekelerregend. Flüchtlingsheim. Einen weniger heimeligen Ort hatte ich noch nie gesehen.

      „Sind wir hier richtig?“, fragte ich Lorelle. Das Gebäude hatte vier Stockwerke, aus den Fenstern oben drangen Stimmen und leise Musik.

      „Wir sind hier richtig.“

      Auf dem ersten Treppenabsatz befand sich ein Waschraum, dessen Eingang teilweise durch einen Müllhaufen blockiert war, der aus einem Abfalleimer quoll und diesen fast unter sich begraben hatte. Ein Mann mit hagerem Oberkörper und einem Handtuch um die Hüften, das Haar noch nass, kam heraus und stieg vorsichtig über den Unrat.

      „Hi“, sagte ich. We are looking for a friend. Mark Chinomba.“ Sein Blick wanderte von Lorelle zu mir. Er schüttelte den Kopf. Where he come from?“

      „Malawi“, antwortete Lorelle und fragte, weil sein Englisch so holprig war, ob er Deutsch spreche. Er zuckte die hageren Schultern. Check upstairs.“

      Überall an den Wänden im Treppenhaus hingen Flugblätter mit schreienden Parolen Nein zu Grenzen!, No to Illegal Detention! Asyl ist Menschenrecht, Veranstaltungshinweisen auf Englisch und Französisch, die meisten jedoch auf Deutsch: Termine für Theatergruppen, religiöse Zusammenkünfte, Sozialarbeitersprechstunden. Auf dem zweiten Stock begegnete uns niemand, wir bogen nach rechts ab und gingen durch eine Doppeltür in einen langen, dunklen Korridor, der als Rumpelkammer für alte Fahrräder, kaputte Tische und Stühle und anderen Müll diente. Wir standen einer Reihe von Türen gegenüber, die meisten halboffen, man sah Stockbetten mit zerschlissenen Matratzen auf denen Männer schliefen, ihre Beine hingen im Freien. Ich klopfte an eine der Türen und trat ein. Vor einem kleinen Herd, auf dem sich ein Topf befand, stand ein Mann, in der einen Hand ein halbes Hühnchen, in der anderen ein Messer. Der Anblick Lorelles hinter mir brachte ihn aus der Fassung – offenbar gab es in diesem Teil des Flüchtlingsheims nur selten Damenbesuch. Er legte das Hühnchen neben kleingeschnittene Paprika und gehackte Zwiebeln auf den Tisch, wischte sich die Hände an der Hose ab und wandte sich uns zu. Nein, den Namen Mark Chinomba habe er noch nie gehört. „Aus Malawi? Nein, er kann nicht hier sein. Das Zimmer hier ist Senegal.“

      Ein anderer Mann saß auf seinem Bett und sah sich auf einem alten Röhrenapparat, der neben dem Bett auf einem Tisch stand, einen Fernsehfilm an. Er blickte nicht auf, während wir uns mit dem Hühnchenmann unterhielten, sondern starrte hingebungsvoll auf den Schirm, dessen Licht ihn beschien, sein Gesichtsausdruck wechselte so rasch wie die Bilder. Auf dem Boden lagen Schuhe und weitere Matratzen verstopften den Durchgang zwischen den Betten. Im Zimmer hing ein widerlicher Geruch nach Essen, müffelnden Schuhen und ungewaschenen Körpern.

      „Wo sind die Nigerianer?“, fragte ich neugierig.

      Kopfschüttelnd zeigte er nach oben. „Jetzt findest du keine Nigeria. Wenn du Nigeria willst, komm abends. Meiste schlafen jetzt.“

      Ich blieb vor der Treppe stehen. Ich war müde und ausgelaugt. „Ich glaube, mir reicht’s.“

      Lorelle sah mich an. „Willst du Mark denn nicht finden?“

      Im nächsten Stockwerk befand sich ein Raum, der viel größer war, als der vorherige, eine kleine Halle, in der alle Matratzen auf dem Boden lagen. Offenbar waren die meisten Männer hier aus Asien, höchstwahrscheinlich Syrer, Pakistaner, Bangladescher oder Afghanen, dazwischen ein paar Schwarze, alle hatten den gleichen verstohlenberechnenden Blick, alle schüttelten rasch den Kopf, als wir nach Mark Chinomba fragten. Manche lagen auf ihren Matratzen und tippten auf ihren Handys herum, einige saßen an einem Tisch in der Raummitte und stritten beim Kartenspiel. Als wir an weiteren offenen Türen vorbeikamen und über weitere Müllhaufen stiegen, vom Gestank beinahe ohnmächtig wurden, Männern zunickten, die grüppchenweise auf dem Balkon versammelt oder untätig am Fenster standen, kam es mir vor, als schritte ich durch einen Ort aus Dantes Inferno. Niemand kannte Mark. Das oberste Stockwerk war das Frauenstockwerk und schon auf der Treppe konnten wir hören, wie jemand beruhigend auf ein kreischendes Kind einredete. Die durchdringenden Schreie veranlassten mich zum Stehenbleiben.

      „Glaubst du, er ist hier, bei den Frauen?“

      Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nie im Leben.“

      Wir gingen.

      Am nächsten Tag rief Lorelle an. „Heute Abend läuft im Neuen Kino eine Doku über Mumia Abu-Jamal. Hat ein Freund erwähnt. Mark ist ein großer Fan von Abu-Jamal.“

      Ich hatte keine Ahnung, wer Mumia Abu-Jamal war, notierte mir aber Lorelles Wegbeschreibung. Nach der Vorführung saßen wir in dem kleinen Café neben dem winzigen Kino. An den Nachbartischen unterhielten sich die Leute noch immer über den schonungslosen Dokumentarfilm, den wir gerade gesehen hatten. Mark und Lorelle saßen händchenhaltend auf einem Sofa und Lorelle sah Mark mit einer Zärtlichkeit an, die so gar nicht zu ihrem harten, gepiercten Gesicht passte. Seit über einem Monat hatte sie Mark nicht gesehen. Als wir vorhin reinkamen und ihn an der Theke mit dem Barkeeper reden sahen, waren die beiden aufeinander zugestürzt und hatten sich wild geküsst, während die Leute ringsum Beifall geklatscht hatten. Ich stand da und beobachtete sie, wobei mir kurz durch den Kopf ging, dass Lorelle das Küssen mit all den Ringen in ihren Lippen bestimmt wehtun musste, war von der Szene aber genauso ergriffen wie alle anderen.

      „Von Abu-Jamal habe ich heute zum ersten Mal gehört.“

      „Wie denn auch?“, lachte Mark. Er wirkte aufgekratzt. „Du wohnst mit deiner schönen Frau in einem großen Haus. Du lebst in Amerika, wo jeder ein Filmstar ist und einen Riesenschlitten fährt.“

      „Bei dir hört sich das an, als wäre es eine Sünde oder eine Krankheit, in einem großen Haus zu wohnen.“

      „Na ja, ich würde mir keinen Film über Menschen, die in großen Häusern leben, ansehen, über sie auch keine Filme drehen.“

      „Das ist fast ein Manifest. Was für Filme würdest du denn machen?“

      „Ich sage dir, welche Art Filme ich machen würde. Über einen Mann in einem Tunnel. Einem langen, endlosen Tunnel, an dessen Ende seine Geliebte wartet, aber allmählich begreift er, dass nicht nur seine Geliebte, sondern auch der Tod wartet. Aber wir sehen nie, wie er die Geliebte oder den Tod erreicht, nur eine einzige, lange Einstellung auf ihn im Tunnel, mehr nicht. Es geht um die Reise selbst. Die Ungeheuer, die sich aus der Dunkelheit auf ihn stürzen, existieren sämtlich nur in seiner Phantasie.“

      Ich nickte. „Hübsche Allegorie für die menschliche Natur. Schönheit und Tod, Seite an Seite. Wir alle stecken in einem Tunnel, die Liebe treibt uns voran, aber Liebe bedeutet gleichzeitig auch Tod. Begehren heißt sterben.“

      „Ja,

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