Maigret verliert eine Verehrerin. Georges Simenon
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»Cécile.«
Er hatte in Bourg-la-Reine, während um ihn herum die sogenannte Beweisaufnahme vonstatten ging, genügend Zeit gehabt, alle möglichen Hypothesen über Cécile aufzustellen, aber keine hatte ihn zufriedengestellt. Er war immer wieder auf dieselbe Frage zurückgekommen:
Was hat sie nur dazu bewegen können, den Quai des Orfèvres zu verlassen, obwohl sie mir etwas so Wichtiges mitzuteilen hatte?
Er war mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass sie nicht aus eigener Initiative weggegangen war.
Jemand musste sich ihr dort, im ureigensten Refugium der Polizei, angenähert haben, wenige Schritte von Maigret entfernt, und Cécile war mit ihm gegangen.
Mit welchen Argumenten hatte man sie weggelockt? Wer hatte eine solche Macht über die junge Frau, um …
Plötzlich begriff Maigret.
»Ich hätte es wissen müssen«, murmelte er und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass sie den Quai nicht verlassen hat, dass nichts sie dazu bringen konnte, dieses Gebäude zu verlassen …«
Er war wütend auf sich selbst.
»Tot natürlich«, brummte er, auf den Boden starrend.
»Ja. Wenn Sie mitkommen wollen …«
Der Direktor der Kriminalpolizei drückte den Knopf einer Gegensprechanlage und wies den Bürodiener an:
»Falls jemand nach mir fragt oder für mich anruft, ich bin gleich wieder da.«
Sie waren beide gleichermaßen besorgt, aber der Kommissar spürte zudem die Last des schlechten Gewissens. Der Tag hatte so schön begonnen. Der Duft von Milchkaffee, von Croissants und von Rum fiel ihm wieder ein. Der strahlende Nebel im Morgengrauen …
»Übrigens, Janvier hat angerufen. Es scheint, dass Ihre Polen …«
Maigret machte eine abwinkende Geste, als wollte er alle Polen der Welt aus seinem Blickfeld verbannen.
Der Direktor öffnete eine Glastür, von der es seit mindestens zehn Jahren hieß, dass man sie zumauern werde. Aus praktischen Gründen zögerte man es jedoch hinaus, denn diese Tür ermöglichte den direkten Weg von der Kriminalpolizei zum Palais de Justice und zur Registratur. Die engen Treppen und verwinkelten Korridore erinnerten an die Kulissen eines Theaters. Wenn man einen Verdächtigen zur Staatsanwaltschaft bringen musste …
Rechts führte eine Treppe ins Dachgeschoss hinauf, wo sich der Erkennungsdienst und das Labor befanden. Ein Stück weiter hörte man hinter einer Milchglastür das pausenlose Stimmengemurmel des Palais, der Anwälte, die kamen und gingen, und der vielen Schaulustigen, die Strafgerichtsprozesse und Verhandlungen vor dem Schwurgericht mit anhörten.
Vor einer schmaleren Tür, die Gott weiß warum mitten in die Wand eingelassen war, stand ein Inspektor und rauchte. Als er die beiden Männer bemerkte, drückte er seine Zigarette aus.
Nur jemand, der das Gebäude genau kannte, konnte von dieser Tür wissen! Hinter ihr befand sich ein recht tiefer Wandschrank, eine etwa zwei Quadratmeter große dunkle Nische, in der Victor aus Bequemlichkeit seine Besen und Eimer untergebracht hatte.
Der Inspektor trat zur Seite. Der Chef öffnete die Tür, und da es in dem Verschlag keine Lampe gab, zündete er ein Streichholz an.
»Das ist sie«, sagte er.
Céciles Körper hatte sich beim Fallen nicht einmal ganz ausstrecken können; ihr Oberkörper lehnte an der Wand, und der Kopf war auf die Brust gesackt.
Maigret, dem plötzlich heiß geworden war, fuhr sich mit seinem Taschentuch übers Gesicht und steckte seine noch brennende Pfeife in die Tasche.
Es bedurfte nicht vieler Worte. Sie standen beide da und betrachteten sie, der Direktor und der Kommissar, und dieser zog unwillkürlich den Hut.
»Wissen Sie, was ich denke, Chef? Jemand ist in den Warteraum gegangen und hat ihr gesagt, dass ich sie statt in meinem Büro in einem anderen Raum erwarte. Jemand, von dem sie angenommen hat, er sei von der Kriminalpolizei.«
Der Direktor nickte nur.
»Es musste schnell gehen, verstehen Sie? Ich hätte sie jeden Augenblick aufrufen können. Sie kannte den Mörder ihrer Tante. Diese Tür, hinter der es vollkommen dunkel ist, wurde aufgemacht … Und sobald Cécile einen Schritt getan hatte …«
»Man hat sie zuerst mit einem Knüppel oder so etwas Ähnlichem bewusstlos geschlagen.«
Der lächerliche grüne Hut, der auf dem Boden lag, bestätigte diese Vermutung. Außerdem war in den dunklen Haaren der jungen Frau ein wenig geronnenes Blut zu erkennen.
»Sie muss getaumelt sein, ist vielleicht hingefallen, und um es möglichst lautlos zu Ende zu bringen, hat der Mörder sie dann erwürgt.«
»Sind Sie sicher, Chef?«
»Es ist die Ansicht des Gerichtsmediziners. Aber ich wollte, dass die Autopsie erst vorgenommen wird, wenn Sie die Leiche gesehen haben. Was erstaunt Sie daran? Auch ihre Tante ist erwürgt worden, oder nicht?«
»Das ist es eben.«
»Was wollen Sie damit sagen, Maigret?«
»Dass ich nicht glaube, dass dieselbe Person beide Verbrechen begangen haben kann. Als Cécile heute Morgen hierherkam, kannte sie den Mörder ihrer Tante.«
»Glauben Sie?«
»Sonst hätte sie früher Alarm geschlagen. Laut Gerichtsmediziner ist ihre Tante vor zwei Uhr morgens gestorben. Entweder war Cécile bei dem Mord dabei …«
»Warum hat der Täter dann nicht auch sie in Bourg-la-Reine umgebracht?«
»Sie könnte sich versteckt haben. Es kann aber auch sein, dass sie die Leiche ihrer Tante erst entdeckt hat, als sie heute Morgen um halb sieben aufgestanden ist – ich habe gesehen, dass ihr Wecker auf diese Uhrzeit gestellt war. Sie hat niemandem etwas gesagt. Sie ist sofort hierhergeeilt.«
»Das ist seltsam.«
»Nicht, wenn man davon ausgeht, dass sie den Mörder gekannt hat. Sie wollte es mir persönlich sagen. Sie hat dem Kommissar von Bourg-la-Reine misstraut. Der Beweis, dass sie Bescheid wusste, ist, dass man sie getötet hat, um sie am Sprechen zu hindern.«
»Und wenn Sie sie gleich empfangen hätten, als sie gekommen sind?«
Maigret wurde rot, was bei ihm selten vorkam.
»Nun ja, eine Sache ist mir noch nicht ganz klar … Dem Mörder war es vielleicht in dem Moment nicht möglich … Oder er wusste noch nicht …«
Plötzlich schien ihm etwas anderes einzufallen.
»Nein, so kann es nicht gewesen sein«, knurrte er.
»Was kann