Dorian van Delft. Wolfram Christ
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Es mag beruhigen, mir auf diesem Blatt Papier den Frust von der Seele zu schreiben. In der Sache bringt es mich nicht weiter. Ingmarson muss mir helfen. Wo steckt der Kerl? Es kann einfach nicht sein, dass der gute Herr Ingmarson sich rarmacht und irgendwelche Messungen an Bord durchführt, während ich hier unten in der Kabine vergeblich mein Eau de Toilette suche! Und das bei den Wellen! Will er mich umbringen? Was sollen die Leute nachher beim Dinner sagen, wenn sie auf meine aparte Duftnote verzichten müssen?
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Ich unterbreche nur ungern. Es lässt sich nicht vermeiden. Bei Durchsicht meiner Notizen aus dem vergangenen Jahr sehe ich mich gezwungen, die eine oder andere Bemerkung einzufügen. Nicht, um das seinerzeit Niedergeschriebene zu korrigieren und also zu verfälschen, wohl aber, um mit bedachtvoller Strenge Dinge zu erläutern, die, im Übereifer des Moments zu Papier gebracht, späteren Lesern ein falsches Bild meiner damaligen Absichten vermitteln möchten. Somit um Nachsicht heischend, fühle ich mich zunächst verpflichtet, ein paar Worte in eigener Sache zu verlieren.
Mein Name ist Dorian van Delft. Ich bin in Rotterdam ansässig, Kaufmann und Weltreisender aus Passion. Mein traditionsreiches und, wie ich nicht unbescheiden hinzufügen darf, recht erfolgreiches Familienunternehmen erfreut sich eines guten Rufes diesseits und jenseits des Atlantiks.
Anfang letzten Jahres war ich mit einer Schiffsladung hochwertiger Stähle und Bleche aus Pittsburgh auf dem Weg nach Reykjavik, wo ich diese Fracht löschte und anschließend meinen Gewinn zu mehren gedachte, indem ich Naturprodukte der isländischen Fischereiwirtschaft für den europäischen Festlandsmarkt erwarb. Tran vor allem, Dörrfisch, Robbenfelle und so weiter. Dass ich Dr. Frans Ingmarson begegnete, ergab sich rein zufällig. Allerdings lief mir dieser schrullige Wissenschaftler genau im rechten Moment über den Weg.
Sie kennen so etwas sicherlich. Nennen Sie es Schicksal, nennen Sie es Fügung. Gottes Wege sind unergründlich. Es sind die unerwarteten Ereignisse, die unseren Lebenskahn von Zeit zu Zeit in eine neue Strömung treiben. Ob dies dann zu unseren Gunsten oder Ungunsten ausfällt, vermögen wir in aller Regel erst im Nachhinein zu entscheiden. Rückgängig machen können wir die einmal getroffene Wahl nicht.
Glauben Sie mir, ich bereue nichts. Mein Leben erhielt damals einen neuen Sinn. Auch wenn mir das nicht von Anfang an klar war. Schon gar nicht an dem oben beschriebenen Abend, unserem dritten gemeinsamen Tag auf hoher See. Mehr noch. Ich bin mir sicher, dass ich mit Hilfe des kleinen Doktors mein Ziel erreichen werde.
Es ist ein hehres Ziel, fernab von gemeinem Gewinnstreben. Und ich bin bereit, einiges dafür zu riskieren. Wen würde es nicht reizen, einmal einer Unsterblichen leibhaftig gegenüber zu treten, ihren Worten zu lauschen, von ihr die Wahrheit über den Weltenlauf zu erfahren?
Denken Sie jetzt bitte nicht an Geschichtsbücher. Menschenwerk! Geschönt und geformt vom Blickwinkel des Autors, tausendmal glattgeschliffen und dem jeweiligen Zeitgeschmack angepasst. Nein, wovon ich rede, das ist die große, die reine, ungeschminkte Wahrheit über den Gang der Dinge, die wir unbedeutenden Erdenwürmer mit unserem Spatzenhirn normalerweise nie erfassen können.
Ich habe an der Schwelle des universellen Wissens stehen dürfen. Ich habe an seiner Tür gerüttelt. Weswegen ich mich verpflichtet fühle, Sie, meine geneigte Leserschaft, und durch Sie die gesamte Menschheit am Stand unserer Forschungen teilhaben zu lassen. Ich schwöre Ihnen: Ich werde nicht ruhen, bis ich diese Pforte öffnen kann.
Ich sehne mich nach dem Augenblick, endlich jener Frau gegenüberzustehen, die Pompejis Bürger vor dem Untergang hätte bewahren können. Es gibt keinen Zweifel. Sie hatte vor dem Ausbruch des Vesuv gewarnt, hatte zur Flucht aufgerufen. Sie erntete Spott und Häme, Unverständnis, Ignoranz.
Ich, Dorian van Delft, verspreche hiermit feierlich: Ich werde diese Frau, wie immer ihr richtiger Name sein mag, finden. Ich werde sie zurück in die Öffentlichkeit führen und zum Nutzen der Menschheit rehabilitieren! Amen.
Ihren Anfang nahm meine Suche wie erwähnt auf Island. In Reykjavik. Wenn ich nunmehr erneut darüber nachdenke, halte ich es zum besseren Verständnis der Ereignisse für sinnvoll, dieser Abschrift einige frühere Tagebucheintragungen ergänzend voranzusetzen. Beginnen wir also von vorn. Ende April vorigen Jahres, kurz nach meiner Landung auf der Insel.
Tagebuch des Dorian van Delft Sonntag, 24. April anno Domini 1870, Reykjavik, Pension an der Lokastigur
Endlich am Ziel. Dem Herrn sei Lob und Preis für die glückliche Überfahrt und den guten Erlös, den ich gestern mit meinem Stahl erzielen konnte. Ich komme gerade vom Gottesdienst in einer kleinen Schifferkirche am Hafen. Zwar verstand ich kein Wort von der Predigt, aber einfach nur da zu sitzen und dem Kerzlein zuzusehen, das ich dem Andenken Johanns gestiftet habe, beruhigte meine Nerven. Hoffentlich kommen mir nicht seine Angehörigen mit Schadensersatzforderungen. Sollen froh sein, dass er so heldenhaft in Erfüllung seiner Pflicht von uns gegangen ist und sie Dank der zugegebenermaßen nicht ganz freiwilligen Seebestattung keine Beerdigungskosten haben. Wer ist denn hier in Wahrheit der Leidtragende? Ich! Wegen der Umstände der vergangenen Tage musste ich mein persönliches Logbuch zuletzt sträflichst vernachlässigen. Ich sehe mich gezwungen, das Versäumte nun mühsam nachzuholen. Ärgerlich.
Die Details: Während unserer Reise von den Bermudas herüber nach Island kündigte mir mein alter Kammerdiener Johann die Gefolgschaft. Unerwartet und auf höchst unerfreuliche Art und Weise. Er verschwand einfach. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und zwar exakt an jenem Tag, an dem draußen dieser mörderische Tornado tobte, der unseren Kahn fast zum Kentern gebracht hätte. Über dem Geschaukel vergaß der dumme Kerl, mir meinen abendlichen Cherry vom Smutje in die Kajüte servieren zu lassen. Wegen des Sturmes konnte ich natürlich beim besten Willen nicht selbst die Kombüse aufsuchen. Da unser Schiff ein Frachter und kein Vergnügungsdampfer und unsere Unterkunft deshalb nahe der Ladung zu finden ist, führt der Weg in die Küche unweigerlich über das offene Achterdeck. Die hochspritzende Gischt hätte meine Frisur ruiniert. Fürsorglich riet ich Johann noch zur Vorsicht, bevor ich ihn losschickte, das Versäumte nachzuholen.
Als mein Sherry eine halbe Stunde später immer noch nicht vor mir stand, schlug ich natürlich sofort Alarm. Ich ließ die Maschinen stoppen. Heldenhaft trotzte ich dem Seegang und leitete persönlich das Rettungsmanöver. Meine Frisur verdarb, meine Kleider wurden durchnässt. Alles nur wegen diesem Tollpatsch! Die braven Seeleute versuchten, ein Beiboot zu Wasser zu lassen. Vergebens. Es zerschellte an der Bordwand. Nichts zu machen. Johann blieb verschwunden. Friede seiner Seele.
Anmerkung: Frühling in Island ist kein Zuckerschlecken. Der eisige Wind pfeift jämmerlich durch die Gassen. Ich habe auf dem Weg zur Kirche gefroren wie ein junger Hund.
Tagebuch des Dorian van Delft Donnerstag, 28. April anno Domini 1870, Reykjavik, Pension an der Lokastigur
Mein Versuch, in Reykjavik geeigneten Ersatz für Johann zu finden, ist kläglich gescheitert. Diese Fischertrampel mögen nette Menschen und passable Gastgeber sein. Jedenfalls, sofern du als Fremder nicht allzu anspruchsvoll daherkommst. Aber in diesem Dorf, das sich Hauptstadt glaubt nennen zu dürfen, in diesem zusammengewürfelten Haufen bunter Wellblechhütten einen Butler zu finden, der diesen Namen verdient, erweist sich als hoffnungsloses Unterfangen. Gewiss wäre es möglich gewesen, stattdessen ein Mädchen einzustellen, das sich leicht anlernen ließe. Allein, ich muss an die abergläubischen Seeleute denken, auf deren Wohl und Wehe ich angewiesen bin. Außerdem bezweifle ich, dass so ein schmuckes junges Ding auf Dauer gut für mein Seelenheil wäre. Es würde mich von meinen Geschäften ablenken. Warum wohl bin ich bis heute nicht verheiratet? Na bitte! Ich bin ratlos.
Tagebuch des Dorian van Delft Sonnabend,