Dorian van Delft. Wolfram Christ
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Heulend saß der gute Doktor am Tisch gegenüber. Er habe das Geheimnis gelüftet, wimmerte er ein ums andere Mal in die Ohren seiner Zechkumpane. Er habe die Höhle der Trollhexe im Skessuhorn entdeckt. Aber die Hexe hause da nicht mehr und er verfüge nicht über die Mittel, den vorgefundenen Spuren weiter zu folgen. Die Kerle lachten ihn aus und empfahlen, lieber mit ihnen zum Walfang hinaus zu fahren.
Ich spürte, dass mehr an der Geschichte sein musste. Ich habe für solche Dinge im Allgemeinen ein gutes Näschen. Also winkte ich den Mann zu mir herüber und bat um nähere Auskunft. Wie ich erfuhr, handelt es sich bei diesem Berg nordöstlich der isländischen Hauptstadt um einen legendären Ort. Skessuhorn bedeutet „Hexenjoch“. Die Höhle tief im Innern des Hexenjochs galt seit uralter Zeit als verschollen. Erik, der Rote, habe sie einst entdeckt, erklärte mir der Doktor. Die Leute erzählten sich, der Wikinger habe die Trollhexe persönlich kennen und schätzen gelernt. Sie hätte ihm geweissagt, wann er sich ungefährdet auf Reisen begeben könne und wann nicht, denn sie habe alles gewusst. Alles über das Innere der Erde, über ihren magischen Kern, hereinbrechende Naturkatastrophen und so weiter.
Was für eine ungeheure Behauptung! Ich war natürlich sofort hellwach. Welche Bedeutung solche Informationen für einen geschickten Handels- und Fahrensmann haben können, muss ich wohl nicht extra erläutern. Wenn es gelänge, die Hexe wiederzufinden, fuhr Ingmarson fort, oder wenigstens die Quellen ihres Wissens, könne dies der Menschheit enorm von Nutzen sein. Wie wahr! Und deshalb, fügte Ingmarson geheimnisvoll flüsternd hinzu, würde es denjenigen, der dieses Wissen erlange, unendlich reich machen.
Der Kerl ist ein Witzbold. Als ob ich das nicht selbst wüsste. Doch weiter. Er, Dr. Frans Ingmarson, habe in besagter Höhle Tonplatten gefunden, welche eindeutige Hinweise enthielten. Diese Hinweise zielten nach Süden. Vielleicht nach Spanien. Es fehlten ihm leider einige Puzzleteile, die er jedoch auf Island kaum zu finden glaube. Sehr interessant!
Ich spendierte meinem neuen Freund im Laufe des Abends einige Becher des hierzulande als Bier bezeichneten Gebräus. Je mehr er trank, desto kräftiger sprudelte es aus ihm heraus. Ich nutzte eine seiner wenigen Atempausen, ihm mein Dilemma anzudeuten. Wie soll ich einen Wissenschaftler fördern, solang ich nicht einmal einen Helfer in meinem Dienst weiß, der sich um mein persönliches Wohl kümmert? Der Doktor fackelte nicht lange und bot mir den zu Beginn erwähnten Handel an. Halleluja!
Tagebuch des Dorian van Delft Montag, den 9. Mai anno Domini 1870, an Bord des Dampfschiffes „St. Egidius“
Heute in aller Herrgottsfrühe stachen wir in See. Gute Geschäfte liegen hinter mir. Bessere erwarten mich hoffentlich in Rotterdam. Herr, bewahre unser Schiff und unser Leben. Amen.
Auf der Suche nach der verschollenen Hexe und ihren Geheimnissen stellen sich täglich köstliche Nebeneffekte ein. Ich kann nun meinerseits Studien am lebenden Objekt eines leidenschaftlichen Wissenschaftlers vornehmen. Faszinierend, wie so ein kleiner vertrockneter Bücherwurm auflebt, wenn er leuchtenden Auges über seine Fortschritte berichten darf. Und wie widerwillig murrend er seine Arbeit versieht, wenn es um das Bügeln meiner Hemden oder das Putzen meiner Schuhe geht. So viel Spaß hatte ich bisher mit keinem Diener.
Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871
Womit sich der Kreis zum Beginn, zum 12. Mai schließt. Was meinem vorn beschriebenen verbalen Wutausbruch des vermissten Eau de Toilettes wegen folgte, habe ich nicht mehr notiert. Die Zeit bis zum Dinner wurde jedenfalls knapp und später vergaß ich Ingmarsons Fauxpas aus naheliegenden Gründen. Ich hatte einfach Wichtigeres im Kopf. Ergänzend will ich deshalb an dieser Stelle versuchen, die Ereignisse zu rekonstruieren:
Nachdem ich mein Tagebuch verstaut hatte, verließ ich wütend die Kajüte. Es dauerte eine Weile bis ich meinen Begleiter fand. Er stand an der Reling und schien Fische zu beobachten.
„Ingmarson, Sie alter Wurzeltroll! Was soll das? Was treiben Sie sich an Deck herum, wenn ich Sie unten brauche?“
„Mir ist schlecht!“ antwortete der Angesprochene. „Entschuldigen Sie vielmals, Mynheer, es wird bestimmt gleich w…ooah.“ Sein blaßgrüner Teint und die zugehörigen Würgattacken bewiesen, dass es sich um keine faule Ausrede handelte. Ich musste lachen.
„Doktorchen, Doktorchen! Das ist nicht Ihr Ernst? Ein Nachkomme der ruhmreichen normannischen Seefahrernation und füttert mir beim ersten kleinen Wellengang die Heringe. Beugen Sie sich nicht so weit über, Mann! Ich habe keine Lust, mir beim nächsten Landgang gleich wieder einen neuen Butler …“
„Wissenschaftlichen Mitarbeiter, bitte.“
„Von mir aus ‚wissenschaftlichen Mitarbeiter‘ … Was wollte ich sagen? Vergessen. Sie besitzen ein bemerkenswertes Talent, Menschen aus dem Konzept zu bringen. Wie dem auch sei, nehmen Sie sich gefälligst zusammen, Mann! Wir haben noch ein paar tausend Seemeilen vor uns. Genügend Zeit, Ihre Neigungen auszuleben. Jetzt kommen Sie erstmal mit runter und helfen mir, mein Eau de Toilette zu suchen. Sonst können wir uns nachher nicht bei Tisch sehen lassen und es soll heute Abend eine besonders leckere Kreation …“
„Mynheer! Würden Sie bitte aufhören, vom Essen zu reden. Ich … woooooah …“
„Meine Güte, sind Sie empfindlich! Meinetwegen. Bleiben Sie von mir aus hier. In dem Zustand nutzen Sie mir wenig.“ Ärgerlich verließ ich das Deck und kehrte in unsere Kajüte zurück. Das Eau de Toilette stand übrigens mitten auf dem Tisch. Ich sah es beim Eintreten. Eingeklemmt zwischen Bücherstapeln, die Ingmarson mit einem Lederriemen sorgsam festgeschnallt hatte. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen den schweren Seegang. Sehr umsichtig.
Erstaunlicherweise schaffte es der Doktor dann doch irgendwie zum Dinner. Zwar stocherte er nur zaghaft mit der Gabel im üppigen Menü herum. Es schien ihm aber deutlich besser zu gehen. Als schließlich die Tischgesellschaft auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam, war Ingmarsons Übelkeit wie weggeblasen und Farbe kehrte in die blassen Wangen zurück. Vor allem der zweite Offizier, ein schlaksiger junger Brite namens Atkins, bekam angesichts unserer unglaublichen Geschichte große leuchtende Augen.
„Kann das wirklich sein? Nach so vielen Jahren?“ hakte er nach.
„Wenn ich es Ihnen versichere, Mr. Atkins. Es gibt kaum zu widerlegende Beweise. Es handelt sich bei der Trollhexe im Skessuhorn mit einiger Sicherheit tatsächlich um die letzte, will sagen, die einzige Überlebende von Pompeji. Ich habe mir beglaubigte Kopien römischer Zeitzeugenberichte aus der Vatikanbibliothek kommen lassen. Diese Dokumente bestätigen unsere Vermutungen eindrucksvoll. Tatsächlich soll es eine Wahrsagerin gegeben haben, die einige Wochen vor dem Vulkanausbruch vergeblich zur Evakuierung der Stadt aufrief. Die damals getroffenen Aussagen decken sich weitgehend mit den Hinterlassenschaften der Trollhexe im Skessuhorn.“
„Dann hätte sie zu Zeiten der Wikinger aber schon über 1000 Jahre alt sein müssen. So alt wird kein Mensch.“
„Mr. Atkins, Sie sind jung und ein Heißsporn. Das ist nicht weiter schlimm. Versuchen Sie einfach, ruhig zu überlegen. Ich frage Sie: Sie glauben an Gott?“
„Gewiss, Sir, tun das nicht alle?“
„Die meisten jedenfalls. Nun, sehen Sie: Ist Gott ein menschliches