Maika bleibt bei mir. Elin Ørjasæter

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Maika bleibt bei mir - Elin Ørjasæter

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fuhr Eva und mich in die Schule. In der ersten Stunde schrieben wir eine Mathearbeit, deshalb hatte ich viel Zeit, über alles nachzudenken. Ich dachte an Urgroßvater.

      Urgroßvater ist Papas einziger Verwandter. Eigentlich ist er nicht mal ein richtiger Verwandter, sondern sein Pflegevater. Als Papa fünf Jahre alt war, starb seine Mutter und sein Vater hat sich kurz danach erschossen. Urgroßvater kümmerte sich seit dieser Zeit um Papa, als wäre er sein eigenes Kind.

      Jeden Sommer fahren wir ins Bjortal, um ihn zu besuchen. Wir spielen im Stall und im Schuppen. Wir müssen uns mit einem Waschlappen in der Schüssel waschen, weil er keine Dusche hat, und aufs Plumpsklo gehen, wo es reichlich stinkt. Aber das Tollste in Bjortal ist Marius. Marius ist Urgroßvaters Schwein, jeden Sommer hat er ein neues. Wir dürfen ihm einen Namen geben und wir taufen es immer Marius. Und zum Mittagessen essen wir den Marius vom letzten Jahr, den Urgroßvater im Herbst geschlachtet und eingesalzen hat.

      Urgroßvater nimmt uns gern auf den Schoß. Er riecht alt, wie Kleidung, die jahrelang im muffigen Keller gelegen hat. Dann sagt er ein oder zwei Kinderreime auf, die wir nicht verstehen, weil er so komisch redet, aber das macht nichts, denn Urgroßvater ist schon zufrieden, wenn er sie aufsagt.

      Und jetzt wollte Urgroßvater herkommen! Es war total unmöglich, sich ihn an einem anderen Ort als in der grauen Küche in Bjortal vorzustellen. Wo sollten wir ihn hinsetzen, wenn sein Stuhl nicht da war?

      Über all das dachte ich während der Mathearbeit nach. Eva und ich sind bei Mathearbeiten immer sehr schnell fertig, weil wir beide in Mathe so schlecht sind, aber wir dürfen nicht rausgehen, ehe alle fertig sind. Ich sah, wie ihr die Haare ins Gesicht fielen. Sie saß schräg vor mir. Dann schob sie ihren Zettel von sich und legte das Gesicht auf die Arme. Gleich würde sie sicher einschlafen, wie so oft.

      »Eva«, sagte ich in der großen Pause, »warum bist du so traurig?«

      Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Kann Mai-Katrin bei euch wohnen?«

      »Mai-Katrin? Meinst du für immer?«

      »Nein, nur für eine Weile ...«

      »Ist Julie sehr krank?«, fragte ich. Julie ist Evas Mutter.

      So nannten wir es: krank. Auch wenn Julie sagte, sie wäre auf dem Trip. Aber drogensüchtig zu sein oder Alkoholikerin ist doch wohl wie eine Art Krankheit. Julie war wohl beides zugleich, aber nur ab und zu. Mehrere Jahre lang war sie ganz gesund gewesen. In den Jahren, als John hier gewesen war.

      »Roger schlägt Mai-Katrin«, sagte Eva.

      Roger war Julies neuer Freund. Er wohnte jetzt seit einem Monat bei ihnen.

      »Oh nein!«

      »Doch, er schlägt sie und gestern hat er nach ihr getreten, sodass sie mit dem Kopf gegen die Wand geflogen ist und hinterher gespuckt hat. Deshalb habe ich sie zum Zeitungsaustragen mitgenommen. Aber ich schaffe es nicht immer. Bei ihr zu sein, meine ich.«

      »Und Julie?«

      »Ach ... Mama ... Die sitzt nur auf dem Sofa und ist so weggetreten, dass sie überhaupt nichts mitkriegt. Oder sie schläft. Wie sollte sie da auf Maika aufpassen können? Maika ist letzte Nacht gegen eins aufgewacht und hat geweint«, fuhr Eva fort, »und bevor ich irgendwas tun konnte, war Roger schon in unserem Zimmer, hat sie aus dem Bett gerissen und getreten. Da hat sie nicht mehr geweint. Erst wieder, als ich sie in mein Bett geholt habe. Da hat sie sich an mich geklammert und wieder angefangen zu weinen. Und dann hat sie gespuckt. Ich kann bald nicht mehr, Marianne! Maika weint dauernd und ich tröste sie wie eine Blöde, damit sie still ist und Roger nicht kommt. Ich versuche alles, um auf sie aufzupassen. Und trotzdem schaffe ich es nicht!«

      »Was glaubst du denn, wie lange wird Roger bei euch bleiben?«

      »Keine Ahnung. Eine Weile ...«

      Plötzlich fiel mir Mikkels ewige Frage ein. »Marianne, wie lang ist eine Weile?« Darauf gab es keine Antwort.

      Wir drehten mehrere Runden um die Schule, Eva und ich, und schmiedeten Pläne.

      Mai-Katrin konnte in der Ecke zwischen dem Fenster und Mikkels und meinem Bett schlafen. Eva konnte sie jeden Morgen abholen, wenn sie in den Kindergarten sollte, und ich konnte Mikkel gleichzeitig hinbringen, das war ja praktisch. Dann konnte Eva abends mit Mai-Katrin kommen, wenn sie ins Bett gehen musste.

      »Und du, Eva, hast du keine Angst vor diesem Roger?«

      »Mich zu schlagen traut er sich nicht«, sagte Eva. »Er hasst mich, traut sich aber nicht zuzuhauen. Und irgendjemand muss doch auf Mama aufpassen. Was meinst du, ob deine Eltern das in Ordnung finden mit Maika?«

      »Ja, natürlich«, sagte ich im Brustton der Überzeugung und graute mich bereits davor, es ihnen erzählen zu müssen.

      »Mai-Katrin?«, sagte Mama. »Du meinst, die kleine Mai-Katrin soll bei uns wohnen?«

      »Nur nachts«, erklärte ich. »Eva passt tagsüber auf sie auf, wenn sie nicht im Kindergarten ist.«

      »Ist es nicht langsam an der Zeit, dass der Dame das Sorgerecht entzogen wird?«, fragte Mama sauer. Sie meinte Julie. »Das ist doch ein Fall für die Jugendfürsorge, nicht für die Nachbarn.«

      »Eva ist keine Nachbarin, Mama, sie ist meine beste Freundin!«

      »Und gerade deshalb sollten wir vielleicht etwas tun, um ihr zu helfen. Die Fürsorge anrufen und berichten, was da vor sich geht.«

      »Und was meinst du, was dann passiert?«

      »Dann kriegen die beiden sicher ein besseres Zuhause.«

      »Mama, aber das, was du ein besseres Zuhause nennst, das ist ein anderes Zuhause, und dann müssen sie von hier fortziehen! Ist das vielleicht gerecht, dass Julie weiter in Skiferlia wohnen darf, während Eva und Mai-Katrin von allen, die sie kennen, wegziehen müssen? Außerdem, es ist ja nur so lange, bis dieser Roger wieder auszieht.«

      Papa hatte dagesessen und seine Zeitung gelesen, aber jetzt sah ich, wie er zuhörte. Nun legte er die Zeitung hin.

      »Wenn das Mädchen einen sicheren Platz zum Schlafen braucht«, sagte er, »dann lass sie verdammt noch mal hier schlafen.«

      »Und Urgroßvater«, fast schrie Mama, »was meinst du, was er von uns denken wird? Und wie soll es hier werden, mit Urgroßvater auf dem Sofa und drei Leuten in Mariannes Zimmer, wer soll sich dann um alles kümmern?«

      »Ich«, erwiderte Papa, »ich habe ja die Zeit, ein Pensionat zu führen.« Er sah ein wenig traurig aus, als er das sagte.

      »Aber kannst du mir vielleicht sagen«, fuhr Mama fort, »kannst du mir sagen, warum um alles in der Welt Urgroßvater ausgerechnet jetzt herkommt?«

      »Das«, antwortete Papa, »das möchte ich auch gern wissen.«

      Urgroßvater kam am nächsten Tag. Papa holte ihn vom Bahnhof ab. Er musste aus unserem alten Lada regelrecht herausgeschält werden und dann stand er da, sagte »Ja, ja«, und dann sagte er gar nichts mehr.

      Alle Kinder im ganzen Wohnblock liefen auf den Balkon und starrten hinunter. So ist es nun mal hier in Skiferlia; wenn was passiert, dann wissen alle davon, und alle wussten sofort, dass unser Urgroßvater kam und bei

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