Das Gemeindekind. Marie von Ebner-Eschenbach
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Gemeindekind - Marie von Ebner-Eschenbach страница 4
Mit dem Bewusstsein eines Siegers erhob Pavel sich vom Boden und ging in weitem Bogen hinter den Häusern des Dorfes dem Schlossgarten zu. Die Pfeife des Nachtwächters warnte freundlich vor den Wegen, die zu vermeiden waren. Auf den Feldern lag harter, hoher Schnee, die Erde schimmerte lichter als der Himmel, an dem die bleiche Mondsichel immer wieder hinter treibendem Gewölk verschwand. Pavel gelangte ans Gartengitter, überkletterte es und liess sich von oben in die Fichten und dann von Zweig zu Zweig zu Boden fallen. Da befand er sich nun im Garten, wusste auch, in welcher Gegend desselben, in der dem Dorf entgegengesetzten, der besten, die er hätte wählen können, für jetzt sowohl, wie später zur Flucht. Von steigender Zuversicht erfüllt ging er vorwärts . . . immer gerade aus, und man musste zum Schlosse kommen. Was dann zu geschehen hätte, malte Pavel sich nicht deutlich aus; er ging, Milada zu befreien, das war ihm herrlich klar, und mochte alles übrige Zweifel und Ratlosigkeit sein, der Gedanke erleuchtete ihm die Seele, den hielt er fest. Dass er jämmerlich zu frieren begann in seinen elenden Kleidern, dass ihm die Glieder steif wurden, grämte ihn nicht; aber schlimm war’s, dass immer tiefere Finsternis einbrach, und Pavel alle Augenblicke an einen Baum anrannte und hinfiel. Wenn er auch das erste Mal gleich wieder auf die Beine sprang, beim zweitenmal schon kam die Versuchung: „Bleib ein wenig liegen, raste, schlafe!“ Trotzdem aber erhob er sich mit starker Willenskraft, tappte weiter und gelangte endlich ans vorgesetzte Ziel — ans Schloss. Hochauf schlug ihm das Herz, als er an die alte verwitterte Mauer griff. Weiss Gott, wie nahe er der Schwester ist; weiss Gott, ob sie nicht in dem Zimmer schläft, vor dessen Fenster er jetzt steht, das er zu erreichen vermag mit seinen Händen . . . Es könnte so gut sein — warum sollte es nicht? und leise, leise fängt er an zu pochen . . . Da vernimmt er dicht am Boden ein knurrendes Geräusch, auf kurzen Beinen kommt etwas herbeigeschlichen, und ehe er sich’s versieht, hat es ihn angesprungen und sucht ihn an der Kehle zu packen. Pavel unterdrückt einen Schrei; er würgt den Köter aus allen seinen Kräften. Aber der Köter ist stärker als er und wohlgeübt in der Kunst, einen Feind zu stellen. Das Geheul, das er dabei ausstiess, tat seine Wirkung, es rief Leute herbei. Sie kamen schlaftrunken und ganz erschrocken; als sie aber sahen, dass sie es nur mit einem Kinde zu tun hatten, wuchs ihnen sogleich der Mut. Pavel wurde umringt und überwältigt, obwohl er raste und sich zur Wehr setzte wie ein wildes Tier.
–––––––––––
III.
Was Pavel im Schlosse gewollt, erfuhr niemand, aber die Hartnäckigkeit, mit der er jede Auskunft verweigerte, bewies deutlich genug, dass er die schlechtesten Absichten gehabt haben musste. Einbrechen wahrscheinlich oder Feuer anlegen, dem Kerl ist alles zuzutrauen. So sprach die öffentliche Meinung, und die mit Elternrechten ausgestattete Gemeinde beschloss Havels exemplarische Züchtigung durch den Herrn Lehrer Habrecht in Gegenwart der sämtlichen Schuljugend.
Der Lehrer, ein kränklicher, nervöser Mann, verstand sich äusserst ungern zur Ausübung des ihm zugemuteten Strafgerichts. Seine Ansicht war, dass solche vor einem jugendlichen Publikum vorgenommene Exekution dem selten nützt, an dem sie vollzogen wird, und denen, die ihr zusehen, immer schadet. „Dieses Vieh wird durch den Anblick ein noch ärgeres Vieh,“ äusserte er, viel zu derb für einen Pädagogen. Man hatte, wenn auch nicht ganz überzeugt, seine Einwendung oft gelten lassen, dieses Mal fruchtete sie nichts.
An dem Tage, der zur Bestrafung des nächtlichen Einschleichers bestimmt war, übernahm ihn denn der Lehrer seufzend aus den Händen der Schergen und führte ihn am Schopfe bis zur Tür der Schulstube. Hier blieb er stehen, hob den gesenkten Kopf des Knaben in die Höhe und sagte:
„Schau mich an, was schaust denn immer auf den Boden, schlechter Bub!“
Nicht liebreich waren diese Worte! und doch, woran lag es denn, dass sie dem Pavel ordentlich wohltaten, und dass sogar die Art, in der der Herr Lehrer ihn dabei an den Haaren zauste, etwas Vertrauen Einflössendes hatte und wie eine Herzstärkung wirkte?
„Fürcht dich, du Bosnickel, du Trotznickel! fürcht dich!“ fuhr jener fort, machte schreckliche Augen und schwang mit äusserst bezeichnender Gebärde den dürren Arm in der Luft. Und Pavel, aus dem seit drei Tagen kein Wort herauszubringen gewesen, der seit drei Tagen keinem Menschen ins Gesicht geschaut hatte, richtete seinen scheuen Blick blinzelnd auf den Lehrer und sprach mit einem halben Lächeln:
„Ich fürcht mich aber doch nicht.“
Aus der Schulstube hatte es früher herausgesummt wie aus einem Bienenkorbe, dann war das Summen in wüsten Lärm übergegangen, und jetzt wurde da drinnen gerauft um die besten Plätze zum bevorstehenden Schauspiel. Der Lehrer brummte unwillig vor sich hin und schüttelte Pavel von neuem:
„Wenn du dich schon nicht fürchtest, so schrei, schrei was du kannst, rat ich dir!“ sagte er, öffnete die Tür und trat ein. Sogleich wurde es still in der Stube, nur einzelne unwillkürliche Ausrufe befriedigter Erwartung liessen sich hören; freundschaftlich rückte man aneinander in den Bänken, die rührendste Eintracht herrschte. Der Lehrer stellte Pavel neben das Katheder und sah sich nach der Rute um. Da er sie eine Weile nicht fand oder nicht zu finden schien, rief eine Stimme: „Dort im Fenster steht sie, im Winkel.“ Die Stimme kam aus einer der letzten Reihen und gehörte dem Arnost, dem Sohne des Häuslers, bei dem Virgil zur Miete wohnte. Pavel ballte die Faust gegen ihn, was zu einem Gemurmel der Entrüstung Anlass gab. Mehr als hundert Augen richteten sich schadenfroh und gehässig auf den braunen zerlumpten Jungen. In ihm kochte die Galle, und so klar er zu denken vermochte, so klar dachte er: „Was hab ich euch getan? warum seid ihr meine Feinde?“
Habrecht gebot Stille und hielt eine Ansprache, in der er die Schuljugend auf eine merkwürdige Enttäuschung vorbereitete. „Ihr seid voll Vergnügen. Warum? wieso? Tun euch die Prügel wohl, die ein anderer kriegt? Passt auf! Weh tun werden sie euch! jeder von euch“ — seine Stimme senkte sich zu einem geheimnisvollen Geflüster, und er streckte den Zeigefinger langsam gegen das Auditorium aus: „Jeder, der dasitzt und vor Schadenfreude aus der Haut fahren möcht, wird bald vor Schmerz aus der Haut fahren mögen. Jeder, der herglotzt und zuschaut, wie ich meine Schläge austeile, wird sie mitspüren . . . mitspüren!“ wiederholte er seine unheimliche Prophezeiung, bei der ihm selbst zu gruseln schien. „Und jetzt gebt acht, was der Herr Lehrer kann!“
Alle Kinder schauderten vor dem Wunder, das sich an ihnen vollziehen sollte; nur noch von der Seite streiften zage Blicke den gefürchteten Mann, dessen Erscheinung in ihrer Länge und Magerkeit etwas Gespenstisches hatte. Die Buben stierten zu Boden, die Mädchen verdeckten die Augen mit den Schürzen.
Der Lehrer aber ging rasch ans Werk. Mit fabelhafter Geschwindigkeit liess er die Fuchtel um den Kopf des Delinquenten wirbeln und führte dann eine Anzahl Hiebe, die Pavel für die Einleitung zur eigentlichen Strafe hielt. Statt diese folgen zu lassen, hielt der Lehrer plötzlich inne und sprach: „Herrgott, da fällt mir jetzt die Brille herunter . . . Heb sie auf . . . Für die Strafe bedanken kannst du dich nach der Stunde.“
Pavel starrte ihn mit stumpfsinnigem Staunen an, er wartete noch auf die richtigen Wichse — da hörte er, dass er sie schon habe, und erhielt den Befehl, sich zu setzen — auf den letzten Platz in die letzte Bank.
Der Lehrer zog das Taschentuch, wischte sich den Schweiss von der Stirn, nahm umständlich eine Prise und begann den Unterricht.
Arnost, der so rot war wie ein Krebs, flüsterte seinem Nachbar zu: „Hast g’schaut?“ — „Ein bissel,“ antwortete der. — „Spürst was?“ — „Ich spür’s im Buckel.“ — „Mich brenntʼs am Ohr.“ — Ein neugieriges kleines Ding von einem Mädchen, das zufällig mit einem Auge an einen Riss in der Schürze geraten war und ihn zum Auslugen benützt hatte, gestand einigen Gefährtinnen, dass es meine, auf lauter Erbsen zu sitzen.
Nach