Das Gemeindekind. Marie von Ebner-Eschenbach

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Das Gemeindekind - Marie von Ebner-Eschenbach

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und wenn es einmal so weit gekommen ist mit einem Menschen, kann auch das Ende nicht mehr ferne sein, meinte er. Und steht es einem nicht frei, es zu beschleunigen? Es gibt allerlei Mittel. Man hält zum Beispiel den Atem an, das ist keine Kunst; es handelt sich nur darum, dass es lange genug geschieht. Pavel unternimmt den Versuch mit verzweifelter Entschlossenheit, und wie er dabei den Kopf in die Erde wühlt, regt sich etwas in seiner Nähe, und er vernimmt ein leises Geräusch, wie es durch das Aufspreizen kleiner Flügel hervorgebracht wird. Er schaut . . .

      Wenige Schritte von ihm sitzt ein Rebhuhn auf dem Neste und hält die Augen in unaussprechlicher Angst auf einen Feind gerichtet, der sich schräg durch die jungen Halme anschleicht. Unhörbar, bedrohlich, grau — eine Katze ist’s. Pavel sieht sie jetzt ganz nah dem Neste stehen; sie leckt den lippenlosen Mund, Krümmt sich wie ein Bogen und schickt sich an zum Sprung auf ihre Beute. Ein Flügelschlag, und der Vogel wäre der Gefahr entrückt; aber er rührt sich nicht. Pavel hatte über der Besorgnis um das Dasein des kleinen Wesens alle seine Selbstmordgedanken vergessen: — So flieg’, du dummes Tier! dachte er. Aber statt zu entfliehen, duckte sich das Rebhuhn, suchte sein Nest noch fester zu umschliessen, und verfolgte mit den dunklen Äuglein jede Bewegung der Angreiferin. Pavel hatte eine Scholle vom Boden gelöst, sprang plötzlich auf und schleuderte sie so wuchtig der Katze an den Kopf, dass sie sich um ihre eigene Achse drehte und geblendet und niesend davonsprang.

      Der Bursche sah ihr nach; ihm war weh und wohl zu Mute. Er hatte einen grossen Schmerz erfahren und eine gute Tat getan. Unmittelbar nachdem er sich elend, verlassen und reif zum Sterben gefühlt, dämmerte etwas wie das Bewusstsein einer Macht in ihm auf . . . einer andern, einer höheren als der, die seine starken Arme und sein finsterer Trotz ihm oft verliehen. Was war das für eine Macht? Unklar tartchte diese Frage aus der lichtlosen Welt seiner Vorstellungen, und er verfiel in ein ihm bisher fremdes, mühevolles und doch süsses Nachsinnen.

      Ein lauter Ruf: „Pavel, Pavel, komm’ her Pavel!“ weckte ihn.

      Auf der Strasse stand der Herr Lehrer, den einer seiner beliebten Nachmittags-Spaziergänge bis hierher geführt hatte, und der seit einiger Zeit den Jungen beobachtete. Er trug einen Knotenstock in der Hand und versteckte ihn rasch hinter seinem Rücken, als Pavel sich näherte.

      „Du Unglücksbub, was treibst du?“ fragte er. „Ich glaube, du nimmst Rebhühnernester aus?“

      Pavel schwieg, wie er einem falschen Verdacht gegenüber immer pflegte, und der Schulmeister drohte ihm:

      „Ärgere mich nicht, antworte . . . Antworte, rať ich dir!“

      Und als der Bursche in seiner Stummheit verharrte, hob der Lehrer plötzlich den Stock und führte einen Schlag nach Pavel, dem dieser nicht auswich, und den er ohne Zucken hinnahm.

      Im Herzen Habrechts regten sich sofort Mitleid und Reue.

      „Pavel,“ sagte er sanft und traurig, „um Gotteswillen, ich hör’ nur Schlimmes von dir — du bist auf einem schlechten Weg; was soll aus dir werden?“

      Diese Anrufung rührte den Buben nicht, im Gegenteil: eine tüchtige Dosis Geringschätzung mischte sich seinem Hasse gegen den alten Hexenmeister bei, der ihn betrogen hatte.

      „Was soll aus dir werden?“ wiederholte der Lehrer.

      Pavel streckte sich, stemmte die Hände in die Seiten und sagte:

      „Ein Dieb.“

      –––––––––––

      V.

      Die Frau Baronin kam noch am Abend des selben Tages nach Hause, aber allein. Ihre Fahrten nach der Stadt wiederholten sich jede Woche den ganzen Sommer hindurch, und man wusste bald im Dorfe, dass ihre Besuche dem Kloster der frommen Schwestern galten, mit deren Oberin sie sehr befreundet war, und denen sie die kleine Milada zur Erziehung anvertraut hatte. Das Institut stand in hohen Ehren, und als Pavel hörte, dass seine Schwester dort untergebracht war, durchströmte ihn ein Gefühl von Glück und Stolz und von Dankbarkeit gegen die Frau Baronin. Er widerstand auch einige Zeit lang den Aufforderungen Vinskas und der eigenen Lust, Raubzüge in den herrschaftlichen Wald zu unternehmen. Nur eine Zeit lang. Seitdem der alte Förster pensioniert und sein Sohn an dessen Stelle gekommen, war der Eintritt in den Wald jedem Unbefugten ein für allemal verboten worden. Das neue Gesetz machte böses Blut und reizte gewaltig zu Übertretungen.

      Es bildete sich eine Bande von Buben und Mädeln, lauter Häuslerskindern, deren Führerschaft Pavel übernahm wie ein natürliches Recht. In kleinen Gruppen wanderten sie hinaus, lustig, kühn und schlau. Sie kannten die Schlupfwinkel und gedeckten Stege besser als selbst die Heger und gingen mit köstlichem Gruseln ihren Abenteuern entgegen, die nur auf zweierlei Weise enden konnten. Entweder glücklich heimkehren, das gestohlene Holz auf dem Rücken, mit der Aussicht auf Lob und ein warmes Abendessen, oder erwischt werden und Prügel kriegen, an Ort und Stelle wegen Dieberei, und daheim, weil man sich hatte erwischen lassen. Das letztere Schicksal traf selten einen anderen als Pavel, dem es oblag, den Rückzug zu decken, und den man immer im Stiche liess, weil man seiner Verschwiegenheit sicher war. Der Pavel verriet keinen, und hätte er es getan, dem schlechten Buben würde man nicht geglaubt haben.

      Sein Ruf verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Fand sich im Walde irgend eine böswillige Beschädigung vor, sie war sein Werk. Entdeckte man eine Schlinge, er hatte sie gelegt; fehlten Hühner, Kartoffeln, Birnen, er hatte sie gestohlen. Trat ihn jemand an und drohte ihm, dann stellte er sich und starrte ihm stumm ins Gesicht. Die alten Leute schimpften ihn nicht einmal mehr; er wäre imstande, meinten sie, einem Steine nachzuwerfen aus dem Busch. So schwarz erschien er mit der Zeit, dass die Familie Virgil förmlich in Unschuld schimmerte im Gegensatz zu ihm.

      Dass Pavel hundert Hände und die Kraft eines Riesen hätte haben müssen, um die zahllosen Schelmenstreiche, die ihm zugeschrieben wurden, wirklich auszuführen, überlegten seine Mitbürger nicht; er aber kam langsam dahinter, und ihn erfüllte eine grenzenlose Verachtung der Dummheit, die das Unsinnigste von ihm glaubte, wenn es nur etwas Schlechtes war. Er fand einen Genuss darin, das blöde und ihm übelgesinnte Volk bei jeder Gelegenheit von neuem aufzubringen, und wie ein anderer im Bewusstsein der Würdigung schwelgt, die ihm zu teil wird, so schwelgte er in dem Bewusstsein der Feindseligkeit, die er einflösste. Was er zu tun vermochte, sie zu nähren, das tat er, und kannte Aufrichtigkeit nicht einmal gegen den Geistlichen im di Beichtstuhl.

      Die Zeit verfloss; der Sommer ging zur Neige; der erste September, der Tag des grossen Kirchenfestes, kam heran. Im vorigen Jahre noch hatte sich Pavel durch die Menge gedrängt und während des Hochamtes barfüssig und zerlumpt unter den Bauernkinder gekniet, dicht an den Stufen des Altars. Heute trat er nicht in die Kirche ein; er hielt sich draussen wie die Bettler und Vagabunden, zu denen er seiner Ausstaffierung nach passte. Sein ehemals langer, grüner Rock reichte ihm jetzt gerade bis zum Gürtel und präsentierte, geplatzt an allen Nähten, eine Musterkarte von abgelegten Kleidern der Virgilova in Gestalt von grossen und kleinen Flicken. Das grobe Hemd liess die Brust unbedeckt, die Leinwandhose, altersgrau und verschrumpft, war so hoch über die Knie heraufgezogen, als ob ihr Eigentümer eben im Begriff sei, durch den Bach zu waten.

      Pavel stand mit dem Rücken an die Planken des Pfarrhofgartens gelehnt, die Arme über den zur Seite geneigten Kopf erhoben, und sah gleichgültigen Blickes den Zug der Kirchgänger vorüberwallen. In Scharen kamen Bursche und Mädel heran; die letzteren begaben sich sofort in das Gotteshaus, die ersteren blieben bei den am Weg aufgerichteten Marktbuden zurück und erwarteten, deren Inhalt musternd, das Zusammenläuten zur Predigt. Einer unter ihnen, ein kleiner junger Mensch mit hässlichem, flachgedrücktem Gesicht, tat sich dabei durch ein auffallend protziges Wesen hervor. Er trug seine, halbstädtische Kleidung; an die schwarze Jacke war aus lauter Wohlhabenheit so viel Stoff verschwendet

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