EMOTION CACHING. Heike Vullriede
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»Der Kleine kann doch noch gar nicht großartig sprechen. Außerdem bin ich sicher, dass die liebe Lena der Frau da draußen die richtige harmlose Erklärung auftischt. Wir haben ihn doch eben erst entdeckt, nachdem wir ihn gesucht haben, oder? Und sei mal ehrlich, meine Mutter hätte besser auf mich aufgepasst. Die Alte ist doch wohl selbst schuld.«
»Du bist ein echtes Arschloch, weißt du das?«, sagte Kim und blickte noch einmal nach draußen. »Aber irgendwo hast du auch recht.«
»Ich weiß!«
***
Zu Kims Überraschung tauchte Robert in den nächsten Tagen nicht zu Hause auf. Jedenfalls nicht, wenn Kim zugegen war. Ein zarter Hoffnungsschimmer erwuchs in Kims finsterer Aura, den womöglich auch ihre Mutter zu schätzen wusste. Die Reibereien mit ihr flauten auf ein erträgliches Maß ab und Kims Aktivismus, nach einer Endlösung des Problems Robert zu suchen, schrumpfte zeitgleich auf ein Minimum.
Das so verdrängte Ärgernis schuf Platz für Gedanken über die eigene Zukunft. Die Sache mit der Fotografie ließ Kim nicht mehr los. War es möglich, von so etwas zu leben? Fotos konnte in der digitalen Kamerawelt schließlich jeder schießen. Ganz sicher gab es auch genügend begabte Menschen, die faszinierende Motive gut in Szene setzten.
Aber Kim wollte noch mehr schaffen. Sie glaubte, das Zeug zu haben, Menschen mit ihren Fotos aufzurütteln, ihnen das Antlitz des wahren Lebens zu zeigen, manche hinter ihren Masken zu entlarven. Sie träumte davon, überwältigende Fotos von den Missständen auf der Welt zu machen. Vielleicht fiele es sogar in ihre Hände, mit ihren Bildern Veränderungen anzustoßen. Bei Greenpeace brauchte man bestimmt mutige Fotografen, die weder das Risiko scheuten, eine körperliche Gefahr einzugehen, noch Angst vor Drohungen einflussreicher Macher hatten. Mutig war sie! Ein Duckmäuser war sie nie gewesen. Die Fotografie beherbergte ein unerschöpfliches Potenzial für sie.
Sie hatte jetzt schon Tage darüber nachgedacht und verschmolz immer mehr mit ihrem neuen Ideal.
»Ich könnte mir vorstellen, Fotografin zu werden«, sagte Kim unvermittelt, als sie morgens mit ihrer Mutter gemeinsam beim Frühstück saß.
Sofie stellte das Kauen ein und blickte von ihrem etwas zu dunkel gerösteten Toast, auf das sie gerade Frischkäse schmieren wollte, zu Kim auf. Offenbar war sie irritiert von dieser für sie spontanen Idee.
»Wo werden denn heute noch Fotografen eingestellt?«, fragte sie, indem sie nach einem kurzen Zögern weiter schmierte.
»Erst mal müsste ich sehen, wo ich das richtig lernen kann. Ich meine die komplette Technik, das Know-how … das ist ein anerkannter Ausbildungsberuf.«
»Endest du da nicht in einem Fotogeschäft, wo du den ganzen Tag Passbilder ausdruckst und Bilderrahmen verkaufst? Du könntest sicher viel mehr aus dir machen.«
»Ich könnte Foto-Künstlerin werden, Reisefotografin, oder bei Greenpeace …«
»Ach, Kind …«
Das reichte Kim. Mehr brauchte Sofie gar nicht zu sagen. Natürlich war auch dieser Wunsch nicht das, was sie hören wollte. Nichts war solide genug. Alles, wovon Kim zu träumen wagte, schien Mist in den Augen ihrer Mutter zu sein.
Kim zerdrückte mit der Faust ihr geöffnetes Frühstücksei, sodass die weiße Schale in kleinen Splittern in ihre Haut stieß, und das halbweich gekochte Innere nach oben auslief. Sie erhob sich und schmiss es auf den Tisch vor den Teller ihrer Mutter.
»Kim, nun hör mal …« Sofie zwinkerte auffallend, wahrscheinlich ein bisschen schuldbewusst, aber Kim sah in solchen Momenten immer nur die Berufspädagogin in ihr, die sie behandelte wie eine ihrer Sechstklässlerinnen.
»… so habe ich das nicht gemeint«, fügte Sofie hinzu.
»Vergiss es!« Schon drehte sich Kim zur Seite, auf dem Weg, diesen Ort der Nichtachtung zu verlassen.
»Nein, bleib doch mal hier.«
Kim wusste nicht warum, aber sie blieb stehen. Womöglich musste sie einfach hören, was ihre Mutter zu sagen hatte, um sich hinterher nicht den Kopf zu zermartern, was sie denn nun hatte sagen wollen.
»Ich finde es toll, dass du wieder einen neuen Berufswunsch hast. Wirklich, das musst du mir glauben; auch wenn es dein Hundertster ist. Von mir aus kannst du gerne versuchen, dich als Künstlerin durchs Leben zu schlagen. Hauptsache, du machst etwas Sinnvolles. Ich habe in letzter Zeit das Gefühl, dass du sehr destruktiv durchs Leben gehst.«
»Kriegsberichterstatter!«
»Wie bitte?«
»Ich gehe in den Nahen Osten und fotografiere im Gazastreifen oder ich gehe nach Afghanistan. Hab mich schon erkundigt, wie man dahin kommt. Wer weiß, vielleicht kämpfe ich gegen Terroristen oder vielleicht auch gegen die anderen. Ist doch scheiß egal!«
»Was? Also Kim …«
Absolut nicht mehr hungrig schritt Kim zur Garderobe, nahm ihre Jacke und verließ das Haus. Sie nahm in Kauf, dass sie den halben Tag alleine durch die Stadt laufen musste. Am Nachmittag wollte sie sich mit den anderen treffen. Nico hatte angeblich das ultimative Euphorie-Gefühl eingefangen. Na, so schnell realisiert, konnte das ja nichts Besonderes sein.
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