EMOTION CACHING. Heike Vullriede

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EMOTION CACHING - Heike Vullriede

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Dauerfalte zwischen ihren Augen.

      Nico rief mit dem Mund voll türkischer Pizza: »Der Film ist der Hammer. Wir haben schon über 6.000 Hits! Krass!« Und er verteilte seine Aura in Form angekauter Krümel im Raum.

      »Halt die Klappe, wenn du isst! Kennst du keine Tischmanieren?« Kopfschüttelnd wischte Kim um ihren Teller herum.

      Mehmets sorgenvolles Gesicht nahm sie nur am Rande wahr. Emotion Caching beherrschte ihre Gedanken – und Robert, dessen Namen sie sich während des erneuten Eingipsens ihres Armes tags zuvor im Krankenhaus dann doch verkniffen hatte. Zu dem musste sie sich später noch Gedanken machen.

      Kim wartete ab, bis Mehmet wieder in angemessener Entfernung hinter seinem Tresen stand und den Rost des Würstchengrills schrubbte.

      »Es ist wie beim Geocaching«, sagte sie. »Ihr müsst euch das so vorstellen: Der Mensch beherbergt einen Schatz, nämlich das Gefühl, die Emotion.«

      »Du meinst, er ist quasi die Schachtel, das Gehäuse dafür?«

      »Ja, sehr scharfsinnig, Nico! Dieser Schatz muss erst geborgen werden, denn er ist tief vergraben, wie das mit Schätzen so üblich ist. Das heißt, man muss ihn aus demjenigen herauskitzeln, den wir dafür ausgewählt haben. Ich habe schon eine ganze Reihe intensiver Gefühle mit meiner Kamera festgehalten, wie ihr wisst. Das war alles so lala. Aber als ich mir gestern Bennis Aufnahmen von Haifisch angesehen habe, da überwältigte mich glatt ein kleiner Schauer, versteht ihr?«

      Die drei sahen sie eine Weile amüsiert an. »Nö!«, meinte Nico dann.

      Kim suchte nach einer passenden Beschreibung, ihre Vision von Emotion Caching in die Köpfe der anderen einzutrichtern. »Es macht nicht wirklich Spaß, die zufälligen kleinen Missgeschicke wildfremder Menschen auszuschlachten und ihnen dann beim Heulen zuzusehen. Man muss erst ein bisschen daran arbeiten, dann entfaltet der Gefühlsausbruch seine ganze Intensität. Denkt doch mal an die Aufnahmen mit dem Typen, der hier ein bisschen blutend vor Mehmets Laden auf dem Boden saß, und dann vergleicht das mit dem Film von Haifisch. Da ist so viel mehr hinter – jedenfalls für mich. Alleine deshalb, weil man es vorbereitet hat. Man baut gewissermaßen eine Verbindung zu seinem Cache auf, packt was in ihn hinein … und dann … dann öffnet man die Schachtel.«

      »Was Kim meint, ist: Wir pflanzen ihnen diese Emotionen ein und ernten sie dann, indem wir das filmen, sammeln und genießen«, ergänzte Benni, der auch gleich seine eigene Vorstellung mit ins Spiel brachte. »Ganz nach dem Ursache- und Wirkungsprinzip. Wenn du willst, dass sie heulen, dann gib ihnen einen Grund dafür. Wir schreiben quasi vorher ein gedankliches Drehbuch, nur die Statisten wissen nichts davon.«

      »Das ist ja wie bei Verstehen Sie Spaß.« Nico zeigte sich begeistert. »Genial! Man könnte sie sogar kennzeichnen – ein paar Haare mitnehmen, zum Beispiel, oder ihnen eine Narbe zufügen. Damit hat man sich auf seinem Cache verewigt.«

      »Narben zufügen?« Kim lachte. Interessanterweise fiel ihr bei diesen Worten gleich wieder Robert ein. Der Gedanke, sich derart auf seinem Körper zu verewigen, barg sofort einen Anflug von geistiger Befriedigung für sie. Sie sah, ohne es zu wollen, ein scharfes Taschenmesser vor sich. Eine böse Vorstellung. Kim versuchte halbherzig, sie zu verwerfen … eine feine geritzte Linie zwischen den grauen Haaren seines speckigen Unterarmes … das ist ein ziemlich gemeiner und unsozialer Gedanke, er hat mir schließlich nicht wirklich etwas getan … ein Paar ängstlich aufgerissene Augen … ich sollte das lassen … Blut … nur ein kleines bisschen des roten Saftes … man müsste ihn ja nicht gleich aufschlitzen

      Kim schüttelte stumm den Kopf, um die düstere Wolke, die sich darin auftürmte, herauszuschleudern. Sie fühlte sich durchaus in der Lage, Robert mit eleganteren Waffen zu schlagen, als mit einem Taschenmesser; elegant, gewieft und unentrinnbar.

      »Ich weiß nicht … ich meine … darf man das? Wenn das rauskommt …«

      Wie zu erwarten, kam der Einwand von Lena.

      Lenas ständige Bedenken bei allem, was man in irgendeiner Art gewagt nennen konnte, ging Kim auch diesmal gehörig auf die Nerven und sie reagierte entsprechend patzig. »Was soll denn da rauskommen? Wir müssen das doch nicht so öffentlich machen, dass auch ja jeder gleich auf uns kommt. Das bleibt alles schön in der privaten Cloud, so wie bisher auch.«

      … und in meinem privaten Archiv, dachte sie.

      »Ja, wir müssen geschickt vorgehen. Wie absolute Profis!« Weitere unzählige Krümel verbreiteten sich über den Tisch.

      »Das sagst ausgerechnet du, Hackfresse!« Benni legte seinen Arm auf Lenas Schulter ab, als wäre sie die Lehne eines Sessels und blickte in die Runde, während Lena dasaß, wie eine zarte nach vorne gefallene Marionette.

      »Ob man das darf, interessiert mich eigentlich nicht«, prahlte Benni. »Aber in einem hat Lena natürlich recht: Wenn das rauskommt, gibt es mindestens genauso viel Ärger, wie wir ihn schon wegen diverser Filmchen an der Backe hatten, bevor wir sie unter Verschluss genommen haben. Und es kann noch schlimmer kommen. Ich erinnere euch nur an meine banalen Fotos am Schulklo – damals wäre ich kurz vor dem Abschluss fast noch von der Schule geflogen.« Er zog seine Stirn kraus und sah sichtlich betroffen zu Boden, dann sprach er etwas leiser nahezu mit sich selbst. »Ich musste zehn beschissene Sozialstunden mit kreischenden Gören im Jugendhaus ableisten. Das war kein Spaß.« Nach fünf stummen Gedenksekunden kam sein Kopf wieder hoch. »Tatsache ist, wenn wir die Leute zu offensichtlich filmen, ist es schon riskant. Wenn wir sie vorher auch noch manipulieren, um ihren entgleisten Gesichtsausdruck einzufangen, geht das einen Schritt weiter. Was wir brauchen, ist die Gewissheit, dass keiner von uns – absolut keiner – das ausposaunt.«

      Alle Augenpaare fielen gleich auf Lena, die sich vergeblich in ihrem Sitzloch aufzurichten versuchte. Es ging auch schlecht, denn Bennis Arm lastete auf ihrer Schulter wie ein Baumstamm.

      »Warum starrt ihr mich alle an? Ich sag niemandem was!«, stammelte sie kleinlaut.

      Ein für Lena unangenehmes Schweigen übermannte die kleine Runde, bis Nico das Wort ergriff.

      »Und womit fangen wir an?«

      »Mhm …« Benni spielte mit seiner Zunge in der Wangentasche. Dann schweifte sein Blick suchend durch Mehmets Schaufenster nach draußen. Dort fiel sein Augenmerk auf zwei jüngere Frauen, die sich nur wenige Meter entfernt rege unterhielten. Blond gefärbte Pferdeschwänze wippten an ihren Hinterköpfen und ihre Jeans saßen hauteng an etwas zu gut gepolsterten Hüften. Eine von ihnen schaukelte routiniert einen Kinderwagen hinter ihrem Rücken hin und her, während sich ein etwa Zweijähriger ein Stück weiter gelangweilt um ein Straßenschild drehte.

      »Passt auf, jetzt zeige ich euch gleich mal, was echte Freude ist«, sagte Benni mit einem Tonfall, der Kim an das Zischen einer bösen Schlange erinnerte. Was schlängelte sich da gerade aus seinen mit Hinterlist gefüllten Hirnwindungen heraus?

      Benni erhob sich aus seinem Sitz und quetschte sich zwischen Kims Beinen und der Tischkante hindurch. An Kims Knien blieb er hängen und grinste ihr ins Gesicht. »Hast du je etwas Männlicheres so nah bei dir gehabt?«

      »Wenn du dich nicht augenblicklich verziehst, gibt es bald nichts Männliches mehr an dir.«

      Eine warnende Erinnerung an Kims Kickbox-Training schien Benni einzuholen. Sein Grinsen erstarb schneller, als es aufgetaucht war, und er sah zu, dass er zügig aus der Reichweite ihrer Knie kam. Kim verzog den Mund. Sie hatte nicht die geringste Lust auf irgendetwas Männliches in der Nähe ihrer Beine, jedenfalls

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