Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst. Aristoteles
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4. Praktische Einsicht
Aus dem Dargelegten geht hervor, daß Geisteskultur Erkenntnis und intuitives Erfassen der ihrer Natur nach höchststehenden Gegenstände ist. Darum schreibt man Männern wie Anaxagoras, Thales und ihresgleichen wohl hohe Geisteskultur, aber nicht auch praktische Einsicht zu, in der Erwägung, daß sie ihre persönlichen Interessen nicht wahrzunehmen wußten. Man sagt von solchen, daß ihre Kenntnisse überschwänglich, die Gegenstände derselben bewundernswert, schwierig und göttlich, aber nichts fürs Leben Brauchbares seien, weil ihr Forschen nicht auf das gerichtet ist, was der menschlichen Natur dienlich ist.
Dagegen hat die praktische Einsicht die menschlichen Dinge, dasjenige worüber sich eine Überlegung anstellen läßt, zum Gegenstande. Denn dem praktisch Einsichtigen schreiben wir am allermeisten dies als seine Leistung zu, daß er richtige Überlegungen anstellt. Es überlegt sich aber niemand dasjenige, was sich nicht anders verhalten kann, oder was kein Ziel und keinen Zweck hat; Ziel und Zweck aber ist das durch Handeln zu bewirkende Gute. Zu rechter Überlegung befähigt schlechthin ist also der Mann, der auf Grund vernünftigen Nachdenkens auf dasjenige als sein Ziel gerichtet ist, was unter dem durch Handeln zu Verwirklichenden für den Menschen das allerdienlichste ist.
Praktische Einsicht hat zum Gegenstande nicht bloß das Allgemeine, sondern es wird von ihr gefordert, daß sie auch über das Einzelne Bescheid wisse. Denn sie bezieht sich auf das Praktische, alle Praxis aber bewegt sich in der Einzelheit. Daher kommt es, daß manche Leute ohne ein Wissen zu besitzen, zu praktischer Ausübung auch auf anderen Gebieten doch tüchtiger sind als andere Leute mit solchem Wissen: es sind das die erfahrenen Leute. Kennt einer den Satz, daß Fleisch, wenn es leicht ist, auch leicht zu verdauen und gesund ist, weiß aber nicht, welche Art von Fleisch leicht ist: so wird er die Gesundheit herzustellen nicht imstande sein. Der dagegen, der weiß, daß das Fleisch von Geflügel leicht und gesund ist, der wird es eher bewirken können. Die Einsicht geht aufs Praktische; sie muß also beides haben, das Wissen und die Erfahrung vom Einzelnen, ja letzteres noch dringlicher. Aber es gibt auch innerhalb ihrer eine werkmeisterliche, eine leitende Kunst.
So ist denn auch die Kunst des Staatsmanns und praktische Einsicht eine und dieselbe Eigenschaft, ohne daß sie doch ihrem Begriffe nach zusammenfielen. Der eine Zweig der Staatskunst ist als werkmeisterliche, leitende Kunst die Kunst der Gesetzgebung: der andere, der die Einzelfälle behandelt, führt den allgemeinen Namen Politik in engerer Bedeutung. Diese ist praktische Geschicklichkeit und auf Beratung gegründet; denn ein einzelner Beschluß hat zum Inhalt ein zu tuendes als den Schlußsatz eines Syllogismus. Darum sagt man allein von diesen Männern, daß sie Politik treiben; denn sie allein üben eine praktische Beschäftigung wie die gewöhnlichen Arbeiter. Man hält aber auch dafür, daß die Einsicht am meisten den Handelnden selbst und den Einzelnen ins Rüge faßt, und so verstanden führt sie den allgemeinen Namen Einsicht. Dahin gehört aber auch Haushaltung, Gesetzgebung und Politik, und diese letztere ist teils beratende Tätigkeit, teils Rechtspflege. Das Wissen von dem was einem selber gut ist, ist demnach eine Art der Einsicht; indessen es liegt dazwischen doch ein gewaltiger Unterschied. Wer sich auf seine eigenen Interessen versteht und sich damit beschäftigt, gilt für einsichtig; die Politiker aber heißen vielgeschäftige und vielgeplagte Leute. So sagt Euripides:
Ich wäre einsichtsvoll, der fern von Müh und Not,
Zur Meng' im Heere zählend und ihr gleichgestellt,
Das gleiche könnt' erlangen [mit dem Weisesten?
Denn nichts ward je so Glänzendes wie solch ein Mann.]
Die weit vorragen und ein Mehr von Leistung tun,
[Die ehrt man, schätzt als Häupter sie im Staat.]
Die Menschen sorgen für ihr eigenes Interesse und meinen, das ins Werk zu setzen sei ihre Aufgabe, und aus dieser Ansicht also stammt es, daß ihnen diese Leute als die Einsichtigen gelten. Und doch ist es schwerlich möglich das eigene Wohl zu schaffen, ohne für das Hauswesen und ohne für das Staatswesen mit bedacht zu sein. Überdies, wie man sein eigenes Wohl besorgen soll, ist keineswegs an sich klar und bedarf der Untersuchung.
Ein Beweis für unsere Ausführungen liegt auch darin, daß junge Leute wohl Geometrie lernen und geschickte Mathematiker werden und in dergleichen Gegenständen sich hohe Bildung erwerben, daß aber ein junger Mensch nicht wohl einsichtsvoll werden mag. Der Grund ist der, daß praktische Einsicht auch die Einzelfälle zum Gegenstande hat, die man durch Erfahrung kennen lernt, ein junger Mensch aber keine Erfahrung hat. Denn Erfahrung wird durch die Länge der Zeit bedingt. Weiter aber ist auch das eine Frage, weshalb ein Knabe wohl ein Mathematiker zu wer den, aber nicht sich allgemeine Bildung oder Naturerkenntnis zu erwerben vermag. Doch wohl weil jenes durch Abstraktion, die Prinzipien dieser letzteren aber durch Erfahrung zum Verständnis gelangen. Junge Leute haben davon keine selbsterworbene Gewißheit, sondern reden nur anderen nach, während ihnen die Grundbegriffe jener mathematischen Gegenstände nicht unzugänglich sind.
Der Fehler sodann, den man in der Überlegung begeht, kann entweder in dem Allgemeinen oder in der Einzelheit liegen: so z.B. in dem Satze, daß alles Wasser was schwer von Gewicht ist, verdorben ist, oder darin daß dieses bestimmte Wasser schwer von Gewicht ist. Daß aber Einsicht keine wissenschaftliche Erkenntnis ist, ist offenbar. Denn ihren Inhalt bildet das Einzelne als die Konklusion im Schluß, wie wir gesehen haben, und was Gegenstand der Praxis ist, ist von letzterer Art. So steht es im Gegensatze zum reinen Denken. Denn das reine Denken hat zum Inhalt die obersten Prinzipien, für die es keinen Beweis gibt; praktische Einsicht aber beschäftigt sich mit dem Letzten, dem Einzelnen, was nicht mehr Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern der Wahrnehmung ist, nicht der spezifischen Wahrnehmung eines einzelnen Sinnes, sondern ähnlich derjenigen, durch welche wir gewahr werden, daß die elementarste Figur unter den Objekten der Mathematik das Dreieck ist; denn auch da ist ein letzter Abschluß gegeben. Aber hier handelt es sich noch eher um Anschauung als um praktische Einsicht; diese ist zwar auch Anschauung, aber von anderer Art.
Etwas suchen ist nicht dasselbe wie sich etwas überlegen; dieses letztere ist eine Art des Suchens. Auch vom Überlegen müssen wir ausmachen, was es seinem Wesen nach ist, ob es Wissenschaft, ob es bloße Meinungsbildung, ob es ein geschicktes Erraten ist oder unter welche Gattung es sonst fällt. Nun ist es zunächst nicht Wissenschaft, denn man sucht nicht was man schon weiß: richtige Überlegung aber ist ein sich Beraten, und wer berät, der sucht nach etwas und denkt darüber nach. Aber auch ein Erraten ist es nicht. Denn man errät ohne bewußte Gründe und im Augenblick; zum Überlegen dagegen bedarf es längerer Zeit, und so heißt es: man müsse im Ausführen dessen, was man sich überlegt hat, schnell, im Überlegen aber langsam sein. Zudem, Scharfsinn ist etwas anderes als richtige Überlegung, und Scharfsinn ist eine Art das Rechte zu treffen. Aber auch eine Meinungsbildung ist das richtige Überlegen in keinem Sinne. Sofern der schlecht Überlegende irre geht, der gut Überlegende das Rechte trifft, ist die rechte Überlegung offenbar ein Treffen des Richtigen, aber des Richtigen weder in wissenschaftlicher Erkenntnis noch in bloßer Meinung. Denn in der Wissenschaft gibt es kein Treffen des Richtigen, sowenig wie ein Verfehlen des Richtigen; Richtigkeit der Meinung aber bedeutet soviel wie Wahrheit. Zugleich aber ist der Gegenstand, über den man sich eine Meinung bildet, immer bereits begrifflich bestimmt; rechte Überlegung aber findet nicht statt, ohne Erwägung von Gründen. Es bleibt also nur übrig, daß sie Richtigkeit der Reflexion bedeutet; denn diese ist als solche noch kein festgestellter Satz, während eine Meinung nicht mehr ein Suchen, sondern bereits ein solcher Satz ist. Wer sich aber etwas überlegt, gleichviel ob er schlecht oder richtig überlegt, der sucht noch erst etwas und denkt über etwas nach.