Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst. Aristoteles
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3. Der Wille im Verhältnis zu Affekten und Begierden
1. Sittlicher und unsittlicher Wille
Wir treten nunmehr, unter einem neuen Gesichtspunkte, in eine weitere Untersuchung ein. Es gibt, wo es sich um den sittlichen Charakter handelt, drei Arten von solchem, was demselben feindlich gegenübersteht: böser Wille, Genußsucht und tierische Roheit. Die Gegensätze dazu liegen bei zweien von ihnen klar vor Augen: den einen nennt man edle Gesinnung, den anderen Selbstbeherrschung. Als den Gegensatz zur tierischen Roheit würde man am passendsten diejenige Hoheit des Wesens bezeichnen, die als heroische oder göttliche über die gewöhnliche menschliche Natur weit hinausliegt. So läßt Homer den Priamos von Hektor sagen, um seine hervorragende Tüchtigkeit zu bezeichnen:
Und er schien nicht
Wie einem sterblichen Mann, nein, wie einem Gotte entsprossen.
Wenn daher, wie die Rede geht, Menschen durch den höchsten Grad der Trefflichkeit zu Göttern werden, so würde offenbar eine derartige Trefflichkeit diejenige sein, die zu dem Zustande tierischer Gefühlsroheit den strikten Gegensatz bildet. Denn wie bei einem Tier nicht von Tugend noch von Laster die Rede sein kann, so auch nicht bei Gott. Hier findet sich was höher steht als alle Tugend, dort hat Schlechtigkeit eine andere Bedeutung. Da es aber etwas Seltenes ist, »ein göttlicher Mann« zu sein, wie die Lakedämonier jemand zu benennen pflegen, wenn sie ihn sehr hoch stellen wollen sie sagen dann »ein göttlicher Mann«, so ist auch tierische Roheit bei Menschen eine seltene Erscheinung. Am häufigsten kommt sie noch bei auswärtigen, nichthellenischen Völkern vor; doch nehmen die Menschen zuweilen auch infolge von Krankheiten und von Entartung solche Eigenschaften an. Mit diesem schimpflichen Ausdruck belegen wir Menschen, die durch einen besonders hohen Grad von Bosheit es anderen zuvortun. Indessen, über diese Art von innerer Beschaffenheit müssen wir nachher noch einiges bemerken: über die niedrige Gesinnung haben wir oben gehandelt; jetzt ist es unsere Aufgabe, über Genußsucht, Verweichlichung, Liederlichkeit, und andererseits über Selbstbeherrschung und Willensstärke zu sprechen.
Diese beiden Reihen darf man nicht ohne weiteres den Gesinnungen zuzählen, die die Sittlichkeit und Unsittlichkeit ausmachen: aber man darf sie andererseits auch nicht als etwas betrachten, was auf ganz anderem Gebiete läge. Auch bei diesen Gegenständen haben wir wie auch sonst dasjenige festzustellen, was an Auffassungen offen vorliegt, dann zunächst die Schwierigkeiten durchzugehen die darin liegen, und auf diesem Wege möglichst über alles das, was die Leute im allgemeinen von diesen Charakterformen urteilen, oder wenn nicht über alles, so doch über das meiste und das wichtigste davon uns Klarheit zu verschaffen. Denn wenn die Schwierigkeiten gehoben werden und das bestehen bleibt, was allen einleuchtet, so darf der Gegenstand als ausreichend aufgehellt gelten.
Nach der allgemeinen Ansicht also gehört Selbstbeherrschung und Willensstärke zu den guten und lobenswerten, Genußsucht und Willensschwäche dagegen zu den schlechten und tadelnswerten Eigenschaften; ebenso gilt der Charaktervolle zugleich als derselbe, der der vernünftigen Überlegung treue Folge leistet, ebenso wie der Genußsüchtige als der gilt, der dazu neigt, ihr abtrünnig zu werden. Der Genußsüchtige handelt von seinem Triebe hingerissen wissentlich schlecht; der Charaktervolle dagegen gibt sich auf grund vernünftiger Überlegung seinen Begierden nicht hin, weil er weiß daß sie verwerflich sind. Dem über niedere Triebe erhabenen Mann schreibt man Selbstbeherrschung und Willensstärke zu, und zwar halten die einen den der diese Eigenschaften besitzt für in allen Beziehungen über das Niedere erhaben, die anderen nicht; den zügellos Ausschweifenden wirft man mit dem seiner nicht Mächtigen, den seiner nicht Mächtigen mit dem Zügellosen zusammen, während andere diese beiden für verschieden halten. Vom einsichtigen Mann behauptet man bald, es könne ihm die Selbstbeherrschung nicht abgehen, während andere behaupten, es gebe manche ganz einsichtige und gescheite Leute, die doch ihren Gelüsten folgten. Mangel an Selbstbeherrschung wird auch mit Bezug auf Heftigkeit ausgesagt wie mit Bezug auf Ruhmsucht und Gewinnsucht. Das etwa ist es, was von geläufigen Ansichten anzuführen wäre.
2. Wille und Intellekt
a) Die Schwierigkeiten der Frage
a) Die Schwierigkeiten der Frage
Da drängt sich nun die Frage auf, wie jemand richtige Ansichten haben und doch der Selbstbeherrschung ermangeln kann. Bei begrifflicher Erkenntnis behaupten manche sei es unmöglich. Denn daß trotz des Besitzes begrifflicher Erkenntnis etwas anderes im Menschen die Herrschaft haben und solche Erkenntnis wie einen Sklaven hinter sich herschleppen sollte, das hielt Sokrates für etwas Ungeheuerliches. Sokrates bestritt demgemäß diese Ansicht durchaus. Solchen Mangel an Willensstärke gebe es nicht; denn wenn jemand im Handeln wider das was ihm am meisten fromme verstoße, so geschehe es niemals wissentlich, sondern immer nur aus Mißverstand. Indessen eine solche Ansicht widerspricht augenscheinlich den Tatsachen, und jedenfalls bedurfte es, wenn Mißverstand der Grund sein soll, erst noch einer Untersuchung dieses Seelenzustandes, in welchem Sinne dabei von Mißverstand gesprochen wird. Denn offenbar hegt der seiner Begierden nicht Mächtige seine falsche Ansicht nicht schon vorher, ehe er sich in der leidenschaftlichen Erregung befindet.
Manche nun geben dem Sokrates wohl in der einen Beziehung recht, in der anderen nicht. Daß nichts größere Macht hat als begriffliche Erkenntnis, das geben sie zu; aber sie stimmen mit ihm darin nicht überein, daß niemand wider das handle, was ihm als das Bessere erschienen ist, und behaupten deshalb, der Genußsüchtige werde von seinen Gelüsten eben deshalb beherrscht, weil er keine begriffliche Einsicht besitze, sondern eine bloße Meinung. Ist es aber eine bloße Meinung und keine begriffliche Erkenntnis, und ist es keine gesicherte, sondern nur eine unbefestigte Meinung, die den Gelüsten sich entgegenstellt, wie bei solchen, die noch im Zweifel hin und her schwanken, so ist da, wo jemand starken Begierden gegenüber seiner Denkweise nicht treu bleibt, ein nachsichtiges Urteil wohl am Platze. Grundsätzliche Unsittlichkeit dagegen hat keinen Anspruch auf Nachsicht, ebenso wenig wie jede andere Art von Verwerflichkeit. Das wäre also etwa dann der Fall, wenn sie trotz des Widerstrebens der praktischen Einsicht geübt würde; hat diese doch die stärkste Kraft. Indessen das wäre ungereimt. Denn das hieße, daß ein und derselbe Mensch zugleich einsichtig und den Lüsten ergeben wäre; kein Mensch aber wird behaupten, daß es die Art eines einsichtigen Menschen sei, willentlich die niedrigsten Handlungen zu begehen. Außerdem haben wir oben gezeigt, daß der Einsichtige sich auch im Handeln bewähre, denn auf das schlechthin Einzelne geht seine Einsicht, und daß er auch die anderen sittlichen Vorzüge besitzt.
Ferner, wenn es ein Merkmal der Selbstbeherrschung ist, starke Begierden, und zwar solche von niederer Art zu empfinden, so ergibt sich, daß der über die Begierden Erhabene nicht der sich Beherrschende, und der sich Beherrschende nicht der über die Begierden Erhabene sein kann. Denn das Kennzeichen eines Mannes von solcher Fassung ist eben das, daß er weder heftig begehrt noch Niederes begehrt; und doch ist solches Begehren die Bedingung dafür, daß von Selbstbeherrschung überhaupt die Rede sein kann. Denn sind die Begierden von edler