Aristoteles: Metaphysik, Nikomachische Ethik, Das Organon, Die Physik & Die Dichtkunst. Aristoteles
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b) Die Auflösung freundschaftlicher Beziehungen
Eine weitere Schwierigkeit bietet die Frage, ob man ein Freundschaftsverhältnis zu Leuten ohne Beständigkeit lösen soll oder nicht. Hat es irgend etwas Befremdliches, daß man eine Verbindung mit Leuten, die man um des Nutzens oder der Annehmlichkeit willen seiner Freundschaft würdigt, auflöst, wenn sie das nicht mehr gewähren, wessen man sich zu ihnen versehen hat? Hier galt die Zuneigung doch diesen Dingen, und blieben sie aus, so ist es ganz verständlich, daß auch die Zuneigung erlischt. Einen Vorwurf könnte man daraus nur dann ableiten, wenn einer, während seine Anhänglichkeit tatsächlich in der Aussicht auf Nutzen oder Annehmlichkeit wurzelt, doch so täte, als liebte er die Persönlichkeit um ihrer inneren Beschaffenheit willen. Denn, wie wir gleich zu Anfang gesagt haben, die meisten Zwistigkeiten erheben sich zwischen Freunden in dem Falle, wo das Band zwischen ihnen nicht die Begründung in Wirklichkeit hat, wie sie es sich vorstellen. Täuscht sich einer hierin und lebt er in dem Wahne, er werde um seiner Persönlichkeit willen geliebt, ohne daß der andere zu solcher Täuschung etwas beiträgt, so wird er die Schuld sich selber zuzuschreiben haben. Ist er dagegen durch die Verstellung des anderen in die Täuschung versetzt worden, so hat er ein Recht, sich über den Urheber seines Irrtums zu beklagen, und das weit mehr als über einen Falschmünzer, je mehr das durch solchen Frevel verletzte Gut an Wert höher steht als im letzteren Fall.
Nimmt man aber den anderen für einen ehrenhaften Charakter, während er ein schlechter Mensch wird und sich auch als solcher erweist, soll man ihm dann auch noch die Freundschaft bewahren ? Oder ist das nicht vielmehr unmöglich, wenn doch nicht alles Gegenstand der Zuneigung ist, sondern nur das Gute? Ein schlechter Charakter verdient keine Zuneigung, und man soll sie ihm auch nicht gewähren. Man soll kein Freund des Bösen sein, noch sich dem niedrig Gesinnten gleichstellen. Oben haben wir gesagt, daß zwischen gleich und gleich Freundschaft herrscht. Soll man also die Verbindung auf der Stelle lösen? oder nicht in jedem Fall, sondern nur mit denjenigen, deren schlechter Charakter keine Aussicht auf Besserung gewährt? Ist es nicht eine weit höhere Pflicht, denjenigen, die einer Besserung noch fähig sind, zu ihrer Charakterbildung seinen Beistand zu leihen, als sie bloß in ihren äußeren Verhältnissen zu fördern ? Und das um so mehr, je mehr dies letztere eine edlere Handlungsweise bedeutet und wahrer Freundschaftsgesinnung in höherem Sinne entspricht? Indessen, wer das Band löst, von dem kann man doch nicht sagen, daß er etwas Ungehöriges tue. Galt doch seine Freundschaft nicht einem Menschen von dem Charakter, den er jetzt zeigt, und läßt er doch von seiner Gesinnung nur deshalb ab, weil er den Entfremdeten nicht wieder auf die rechte Bahn zu bringen vermag.
Bleibt nun aber der eine, wie er ist, und bessert sich der andere in seinem Charakter so sehr, daß er jenen in sittlicher Haltung weit überragt, muß er ihn dann als Freund behandeln, oder verbietet sich ihm das als unmöglich? Wird der Abstand sehr groß, so tritt die Schwierigkeit am deutlichsten hervor; so bei Knabenfreundschaften. Bleibt der eine in seiner geistigen Entwicklung ein Knabe, während der andere zu einem Manne von besonderer Auszeichnung heranreift, wie könnten sie dann noch Freunde sein? Haben sie doch weder an denselben Dingen ein Gefallen, noch den Anlaß zu Freude oder Schmerz gemeinsam. Auch in ihrem gegenseitigen persönlichen Verhältnis werden sie nicht das gleiche empfinden, und ohne das, sagten wir, ist es unmöglich, befreundet zu sein, weil ein Zusammenleben unmöglich ist. Davon haben wir oben gesprochen. Muß man sich also zu dem andern in kein anderes Verhältnis stellen, als zu einem, zu dem man niemals freundschaftliche Beziehungen unterhalten hat? Oder soll man an der Erinnerung des dereinstigen vertrauten Umgangs festhalten, und so, wie wir meinen, Freunden mehr als Fremden entgegenkommen zu müssen, so auch dereinstigen Freunden um der früheren Freundschaft willen ein Zugeständnis machen, falls nicht durch einen besonders hohen Grad boshafter Gesinnung die völlige Trennung geboten ist?
c) Selbstliebe und Nächstenliebe
Man darf die Betätigungsweisen, in denen sich liebevolle Gesinnung darstellt, und dasjenige was ihren Begriff bezeichnet, als abgeleitet ansehen aus dem Verhältnis, in dem wir zu uns selber stehen. Unter einem uns liebevoll zugetanen Menschen versteht man doch einen solchen, der uns um unsertwillen alles, was gut ist oder was ihm so erscheint, zudenkt und ins Werk setzt, oder einen solchen, der für den, dem er in Liebe zugetan ist, rein um dessen selbst willen den Wunsch hegt, daß er dasei und lebe. So empfinden Mütter für ihre Kinder, so auch Freunde für einander, und das selbst dann, wenn sie durch einen Zwist völlig auseinander geraten sind. Einen Freund nennt man ferner den, der unser Leben teilt, der dieselben Dinge wie wir wert hält, der mit uns Leid und Freude gemein hat. Auch das ist in der Mutterliebe am meisten der Fall. Durch einen dieser Züge also charakterisiert man die Liebe, jedes dieser Merkmale gilt nun aber für einen Menschen von sittlicher Haltung im Verhältnis zu sich selbst, und für die übrigen gilt es gleichfalls, sofern sie solche Menschen zusein beanspruchen. Wie wir dargelegt haben, darf aber die sittliche Gesinnung und der sittlich tüchtige Mann als Maßstab dienen für jede besondere Lebensäußerung. Ein solcher Mann also lebt in Frieden mit sich selbst, und alle Betätigungsformen seiner Innerlichkeit zeigen ein und dasselbe Bestreben. Er nimmt für sich selbst alles Gute und das, was ihm als das Gute erscheint, zum Ziel und setzt es auch ins Werk; denn daran erkennt man den guten Menschen, daß er alle seine Kraft an das Gute wendet. Er tut es um seinetwillen, im Dienste der in ihm lebenden Vernunft, die man als das eigentliche Selbst eines jeden betrachten muß. Er wünscht zu leben und wohlbehalten zu sein, und er wünscht es am meisten für das, was in ihm das denkende Teil ist. Denn für den Mann von sittlichem Charakter ist das Dasein ein Gut, und das Gute wünscht jeder für sich selbst; niemand dagegen wünscht, ein anderer zu werden, so daß dann das, zu dem er geworden wäre, alles Gute hätte. Denn auch Gott hat schon so alles Gute, aber deshalb hat er es, weil er ist, was er ist. Jeder aber, darf man sagen, ist [wie Gott] das, was in ihm denkende Vernunft ist, oder doch dies mehr als alles andere. So will denn auch ein solcher Mann sein Leben im Umgange mit sich selbst führen, denn darin findet er volle Befriedigung. Die Erinnerung an seine Vergangenheit ist ihm erfreulich; was er von der Zukunft erwartet, ist nur Gutes, und solches Hoffen ist Grund zur Freude. Er ist mit Gegenständen seiner Betrachtung in der Innerlichkeit seines denkenden Geistes reichlich ausgestattet. Was an Freud und Leid sein Inneres bewegt, das empfindet er als denkendes Selbst aufs stärkste mit; denn allen Seiten seines Wesens ist eines und dasselbe schmerzlich oder erfreulich, und nicht der einen dieses, der anderen jenes. Reue, darf man sagen, kennt er nicht. Indem nun bei einem Menschen von sittlicher Haltung alle diese Züge für das Verhältnis zu der eigenen Person gelten und er sich zu dem den er liebt verhält wie zu sich selbst, / ist doch der Freund sein anderes Selbst, / so darf man sagen: die Liebe