Endstation Engadin. Gian Maria Calonder
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Читать онлайн книгу Endstation Engadin - Gian Maria Calonder страница 3
»Hast du Dienst?«, fragte er. »Ich bin im Val Bever. Was ist im Tunnel passiert? Ich höre einen Helikopter, braucht ihr mich?«
»Nein«, sagte Jon Luca verschlafen. »Zweimal nein. Nein, ich bin nicht im Dienst. Und nein, wir brauchen dich nicht. Ich habe Piket. Wäre etwas, hätte ich einen Anruf bekommen. Keine Ahnung, ob im Albulatunnel etwas ist.«
»Es hieß, ein totes Tier ist auf der Strecke.«
»Na also«, sagte Jon Luca nur. »Darf ich jetzt weiterschlafen? Und wieso bist du nicht im Bett? Hat Gisler dir nicht Hausarrest gegeben?«
»Hausarrest? Nein, bestimmt nicht, das war nur ein guter Rat«, behauptete Capaul und legte auf.
Kurz war die gute Laune wie weggeblasen. Doch dann wehte der Duft von Lärchen und feuchter Erde herbei, ein leises, zauberhaftes Rauschen erhob sich, obwohl Capaul nur Lärchen und Nadelbäume sah – er wusste gar nicht, dass die so rauschen konnten. Und dann entdeckte er oben am Berg, an einer Stelle, die fast überschüssig war, einen Raubvogel. Es war kein Bussard, sondern etwas Größeres, ein Bartgeier oder Adler. Inzwischen reichte die Sonne bis dorthin.
Capaul betrat das Brücklein und spuckte zum Spaß in den Bach, dann begann er wieder zu pfeifen: Ich fange nie mehr was an einem Sonntag an. Als er kurz nach Spinas zurückblickte, sprang am Bauschuppen die Leuchttafel gerade zurück auf null.
II
Capaul hatte eine wilde, urwüchsige Landschaft erwartet, doch die Tour durch das Val Bever entpuppte sich als besserer Spaziergang. Die Jäger waren steil bergwärts gestiegen, dem Albulapass entgegen. Er hingegen wollte nur über Bever zurück nach Samedan, und jener Weg war gut gepfadet, mancherorts gar gekiest. Überall waren Zeichen der modernen Zivilisation: Lustige Holzskulpturen säumten den Weg, zudem passierte Capaul einen bunten Eimer für Hundekot mit der freundlichen Mahnung Ihr Liebling hat etwas liegen lassen, zwei temporäre Toilettenhäuschen sowie eine an eine Tanne geschraubte Sparbüchse mit der Aufschrift Spende für die Winterfütterung der Vögel, danke. Als er einen Spielplatz mit mannsgroßer Pingu-Figur und einer Plastikrutschbahn in Form einer Enzianblüte erreichte, rastete er kurz und freute sich über den Waldduft, den Raureif, der hier und da den Boden bedeckte, und an den Kühen, die frei zwischen den Bäumen umherstreiften. Sie trugen nicht einmal Glocken.
Er hatte Hunger, klugerweise hätte er sich vor der Tour im Gasthaus Spinas mit einem Stück Nusstorte oder einem Salsiz eingedeckt, außerdem fror er. Trotzdem raffte er sich erst auf, als er zwischen den Bäumen jemanden kommen sah und plötzlich dachte, dass es vielleicht ungehörig war, als Mann auf einem Kinderspielplatz zu sitzen. Der andere Wanderer trug eines jener roten Leibchen Albula II Juhei und über der Schulter eine massige Fototasche. Sein wirres schwarzes Haar und der schlecht gestutzte Vollbart erinnerten an Räuber Hotzenplotz, und Capaul wunderte sich, dass der Mann ihm nicht schon in Samedan aufgefallen war. Da er zügig unterwegs war, ließ Capaul ihn passieren, grüßte, wie es sich gehörte, mit »Allegra« und erntete dafür ein unbestimmtes Grunzen. Danach machte er sich auch wieder auf den Weg. Doch nun war er in Gedanken erneut bei der Bahn, und als der Hotzenplotz bei einer Bank hielt und die Fototasche durchsuchte, sprach er ihn an.
»Verzeihung, wir waren wohl im selben Zug. Ist die Strecke wieder frei? Ist inzwischen bekannt, was den Unterbruch verursacht hat?«
»Keine Ahnung«, sagte der Hotzenplotz mit Basler Akzent. »Wenn morgens um sieben schon Wein fließt, mache ich mich rar. Die Führung war mir nicht so wichtig. Ihnen ja offenbar auch nicht.«
»Ich weiß von gar keiner Führung.«
»Die RhB-Freunde erhalten heute eine Sonderführung durch die Tunnelbaustelle. Nicht die übliche Tour den Schaukästen nach, nein, richtig tief hinein in den Tunnel, dorthin, wo gebohrt und gesprengt wird. Das ist so interessant wie obszön, ich jedenfalls muss nicht zum bloßen Vergnügen zusehen, wie die Männer Tag für Tag im Berg für schlechten Lohn ihr Leben wagen.«
»Ja, aber warum sind Sie dann überhaupt mitgefahren?«
Darauf erhielt Capaul keine Antwort. Der Hotzenplotz hatte gefunden, was er suchte, ein kleines Fernglas, das er sich um den Hals hängte. »Bald wimmelt es hier von Familienausflüglern«, sagte er. Offenbar wollte er das Gespräch beenden.
»Ich hatte mir den Weg auch romantischer vorgestellt, hier hat es bald mehr Toiletten als Bäume«, sagte Capaul im Versuch, dem Hotzenplotz ein Lächeln zu entlocken.
Doch der wurde noch finsterer: »Wäre Ihnen lieber, hier wäre alles verkotet? Sie spazieren nun mal auf dem Märchenweg. Märchen, das bedeutet Kinder, und Kinder bedeuten Kot, Rotz und Kotze, das liegt in der Natur der Dinge.«
»Na, na«, rief Capaul. »Ich erwarte ja nicht, dass jeder Kinder mag, aber sie auf ihre Ausscheidungen zu reduzieren …«
»Moment, wer sagt, dass ich keine Kinder mag? Ich verschließe nur deshalb nicht die Augen. Leider leben wir in einer Epoche exzessiver Schönfärberei, alles hat nett, angepasst und duftend zu sein. Was ist die Folge? Darunter kocht die Jauche umso höher.« Der Hotzenplotz schulterte die Tasche und enthüllte eine Inschrift an der Bank: Silva Family. »Ich sage Ihnen«, fuhr er engagiert fort, »das wird für unsere rosarote Zuckerwattegesellschaft noch ein übles Erwachen. Scheiße wird nämlich nicht zu Gold, indem man sie vergoldet, auch wenn sich das alle noch so sehr wünschen. Und der böse Bube ist letztendlich nicht, wer unter der glänzenden Oberfläche die Scheiße wittert. Der böse Bube ist, wer ein Vermögen damit macht, dass er euch Dummen Scheiße für Gold verkauft. Aber bis ihr das begreift, wird es zu spät sein.« Damit war das Gespräch endgültig beendet, und er marschierte mit ausgreifendem Schritt weiter.
Capaul setzte sich auf die Bank und sah ihm nach, dann blickte er sich nach Zeichen des Märchenwegs um, den der Mann erwähnt hatte. Er konnte sich darunter nichts vorstellen. Ob der Spielplatz Teil davon war? Oder diese Holzfiguren? Er entdeckte ein Tier, das in einem Loch in der Bank verschwand und in einem anderen wieder auftauchte, wohl eine Schlupfwespe, stand auf, um nicht etwa gestochen zu werden, und sah ihm kurz zu, dann hörte er irgendwo im Wald leises Klappern. Rund fünfzig Meter oberhalb des Wegs, halb hinter Bäumen verborgen, sah er etwas Buntes, vielleicht ein Häuschen. Er stieg den frostigen Boden empor, manchmal musste er sich abstützen, wobei der Raureif unter seinen Fingern schmolz. Als er näher kam, begriff er, dass das Klappern vom Rauch eines schmalen runden Blechkamins herrührte – oder besser vom dünnen Deckel, der den Kamin deckte, wohl damit es nicht hineinregnete. Der austretende Rauch hob ihn immer wieder kurz an, dann fiel er mit leisem »Pling« zurück. Das Häuschen war im Übrigen kein Häuschen, sondern ein Bauwagen aus bemaltem Blech.
»Hallo?«, rief er und stieg weiter. »Allegra.«
Gleich darauf wurde das einzige kleine Fenster aufgeschoben, und eine betörende Frauenstimme sprach halb, halb sang sie:
»Come in, come in
Whoever you are
And meet a young lady
Who fell from a star.«
Das ließ Capaul sich nicht zweimal sagen. Er stieß die Tür auf und betrat den gut geheizten Wagen. Drinnen brannte kein Licht, das Fenster war trüb. Nachdem seine Augen sich einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erahnte er eine Frau in weißem Kleid, die im Schneidersitz auf einem Fellbett saß und ihn erwartungsvoll ansah.
»Das