Endstation Engadin. Gian Maria Calonder

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Endstation Engadin - Gian Maria Calonder Ein Mord für Massimo Capaul

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sind Sie denn wohl?«

      Die Frau stand schweigend auf und zündete umständlich eine Art Grubenlampe an, die in der Mitte des Bauwagens von der Decke hing, dann winkte sie ihn näher und betrachtete ihn lächelnd im rötlichen Licht der zischenden Lampe. Endlich sagte sie, wieder mit dieser warmen, brüchigen Stimme: »Ein neues Gesicht, sieh da. Und wie heißt du?«

      »Massimo.« Und du?, wollte er fragen, aber irgendwie blieb ihm die Stimme weg.

      Sie war nicht so jung, wie er zuerst gedacht hatte. Im Lächeln bildeten sich um ihre Augen Krähenfüße und in den Mundwinkeln mehrere feine, scharfe Grübchen. Sie hatte breite Wangenknochen, eine kindlich kleine Nase mit Sommersprossen und aschblondes Haar, das sie wohl selbst zu einer Art Pagenkopf geschnitten hatte. Trotz des Rauchs im Wagen roch Capaul Rosenduft und glaubte den warmen Hauch ihres Atems zu spüren.

      »Wie heißt das Märchen?«, fragte er stattdessen, fast tonlos.

      »Sag du es mir.«

      »Ich weiß nicht, was steht denn zur Auswahl?«

      Mit einem leisen Seufzer blies sie die Lampe wieder aus und zündete eine Kerze an. Aus einem Krug, der auf dem Bollerofen stand, goss sie Rauchtee in eine Tasse und reichte sie ihm, dann setzte sie sich zurück aufs Fellbett. Weil Capaul keinen Stuhl fand, setzte er sich auf eine leere Getränkekiste.

      Abermals musterte sie ihn, dann sagte sie, wieder mit dieser unerhört einlullenden rauchigen Stimme: »Ich muss ja gestehen, ich hatte einen anderen erwartet.«

      »Oh – soll ich wieder gehen?« Capaul stand auf. Er wollte die Tasse abstellen, wusste aber nicht wohin, denn der Tisch war von Büchern übersät, von denen einige sehr alt und vermutlich kostbar waren, und behielt sie dann doch in der Hand.

      »Nein, nein, setz dich wieder. Nichts geschieht grundlos. Und das ist keine Plattitüde. Seit ich hier im Wald lebe, hat jeder einzelne Mensch, der angeklopft hat, mich auf ganz eigene Art reicher gemacht.«

      Capaul hatte sich gesetzt, nun sprang er nochmals auf. »Ach so, ja. Natürlich kann ich auch etwas bezahlen. Sind dreißig Franken angemessen?« Er fand die Scheine nicht gleich, denn im Zug hatte er sie nur eben in die Jackentasche geschoben.

      Still sah sie ihm beim Suchen zu, nahm das Geld und schob es unter die Felle. Dann sagte sie: »Danke, an Geld hatte ich gar nicht gedacht.«

      »Sonst kann ich auch Holz hacken oder abwaschen. Ich bin ein guter Abwäscher.«

      Sie lachte leise, bestimmt hatte sie nicht mehr als einen Teller, etwas Besteck und diese Tasse. »Holz nachlegen kannst du. Nur ein Scheit, da drüben liegen welche.«

      Er holte eines und schob es ins Rohr, was nicht ganz einfach war, weil er noch immer die Tasse hielt. Danach war ihm schwummrig zumute, und er setzte sich. Sein Kopf war heiß. »Und nun?«, fragte er mit belegter Stimme.

      »Ja, wenn ich das wüsste«, sagte sie verspielt. »Irgendwie werde ich mir das Geld verdienen müssen.«

      Die Bemerkung hatte nichts Obszönes, nicht im Geringsten, trotzdem fürchtete Capaul um den heiligen Moment. »Oh, ich bin schon reich beschenkt, ich erwarte gar nichts«, versicherte er eilig.

      Diesmal lachte sie laut. »Umso besser. Dann verrate mir, Massimo, was dich so früh in die Val Bever treibt.«

      Er stutzte. »Ich dachte immer, es heißt ›das Val Bever‹.«

      »Nein, nein«, versicherte sie. »La val, il piz. Das Tal ist weiblich, der Gipfel männlich, das Romanische ist sehr direkt. Also, was treibt dich her?«

      »Der Zufall.«

      »Es gibt keinen Zufall.«

      »Ja, was dann, die Vorsehung? Vielleicht ein Fluch?« Er lachte. In seinem Kopf herrschte eine ganz unbekannte Leichtigkeit, Worte und Gedanken schwebten schillernd wie Seifenblasen. »Jedenfalls blieb der Zug stehen, der Tunnel ist gesperrt.«

      »Ach so.« Sie sagte es, als erkläre sich daraus so einiges, doch Capaul hatte den nächsten Satz schon auf den Lippen und war zu benommen, um zu reagieren.

      »Auf der Strecke lag nämlich ein totes Tier«, erklärte er, »ein Hirsch vermutlich.« Wieder lachte er.

      Verwundert fragte sie: »Massimo, was gibt es da zu lachen?«

      »Ja, eigentlich gar nichts«, gab er zu. »Der arme Hirsch.« Trotzdem lachte er weiter.

      Sie beugte sich leicht vor und sagte eindringlich: »Zum Leben gibt es zwei Wege. Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg.«

      »Genial in welchem Sinn?«, fragte Capaul heiter.

      Aber offenbar war die Lektion damit beendet, denn sie stand auf und öffnete die Tür.

      »Zeit, mich zu verabschieden.« Er erhob sich ebenfalls und stellte die Tasse auf die Kiste.

      »Ich wollte nur lüften, die Karbidlampe stinkt.« Aber sie hielt ihn nicht zurück, sondern folgte ihm nach draußen.

      »Darf ich wiederkommen?«, fragte er. Bei Tageslicht war ihr Kleid nicht weiß, es war aus ungefärbtem Leinen. Und sie hatte auch auf der Stirn spinnwebfeine, aber messerscharfe Falten. Er schätzte sie auf etwa gut vierzig.

      »Falls du ein zweites Mal herfindest.«

      Während er sich an den Abstieg machte, blieb sie draußen stehen. Die Sonne reichte inzwischen bis auf den Talboden, der Raureif war geschmolzen, auf der Erde tanzten Lichtflecken. Capaul drehte sich nochmals um, er wollte winken – wie ein Schulbub, der sich schwertut, von daheim loszuziehen. Allerdings sah sie ihm nicht nach, sondern talaufwärts, zum Albula hin.

      Alles war wie verwandelt, das Licht so golden, das Grün so satt. Capaul wartete nur darauf, hinter der nächsten Wegbiegung einem Einhorn oder Zwergen zu begegnen. So wunderte er sich auch nicht, als er das Rumpeln, Trappeln und Gebimmel einer Pferdekutsche hörte. Darin saß eine Gruppe angeheiterter RhB-Freunde. Capaul machte Platz, um sie vorbeizulassen, doch jener, der neben dem Kutscher auf dem Bock saß, vielleicht eine Art Anführer, bat den Kutscher zu halten: »Wir hätten noch Platz. Zweien von uns ist schlecht geworden, die laufen lieber.«

      »Ja dann«, sagte Capaul und stieg auf, denn der Hunger plagte ihn inzwischen heftig, und auch der Marsch strengte an.

      »Ist der Tunnel noch immer gesperrt?«, schrie er gegen den Fahrlärm an, als die Pferde weitertrabten.

      Die anderen winkten ab. »Es war nur zu spät für unsere Sonderführung. Und nach Preda fahren wir dann sowieso zum Durchstich.«

      »Und was für ein Tier war es nun?«

      »Gar keines, ein Mensch. Der Lokführer konnte nur erst nichts erkennen. Lokomotivscheinwerfer strahlen im 45-Grad-Winkel. Wenn etwas zu nah am Führerstand ist, sieht man nichts. Und vielleicht traute er sich nicht auszusteigen. Jedenfalls musste die Polizei anrücken, und das hat natürlich gedauert.«

      »Und geputzt musste werden«, fügte ein anderer hinzu. »Stell dir vor, es hält ein Zug im Tunnel, und an den Wänden klebt noch die ganze Schweinerei.«

      »Es heißt,

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