Endstation Engadin. Gian Maria Calonder
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»Welches Tuntschi?«, fragte Capaul, dem nun auch leicht übel war.
»Sag nur, du kennst das Sennentuntschi nicht!«
Capaul konnte nicht antworten, weil jetzt alle durcheinanderredeten.
»Die Jäger würden sagen, er war abgebalgt.«
»Willst du behaupten, den hat einer erlegt?«
»Ihr redet alle Schwachsinn. Gerätst du in einem so engen Tunnel wie dem Albula zwischen Zug und Tunnelwand, raspelt es dir erst die Kleider ab und dann die Haut. Vor ein paar Jahren sind japanische Teenager durch den Brienzer Tunnel spaziert. Sie hatten den Wanderweg verloren. Und plötzlich war da nur noch eine Felswand, und eben der Eisenbahntunnel. Die wurden auch geraspelt.«
»Ich wäre geschwommen.«
»Wann? Wieso?«
»In Brienz. Die Zugstrecke führt direkt am See entlang. Und ich kenne keinen schöneren See.«
»Und der Silsersee? Der Silvaplaner?«
»Der schönste ist der Lai da Palpuogna, das ist Fakt, darüber haben die Schweizer abgestimmt.«
»Wie soll der heißen?«
»Lai da Palpuogna, gleich oberhalb von Preda.«
»Wer putzt da eigentlich?«
»In Preda?«
»Im Tunnel. Nach so einem Unfall.«
»Die RhB, denke ich.«
»Nein, jedenfalls haben wir so was nicht gemacht, als ich noch dabei war. Dafür gibt es Tatortreiniger.«
»Tatortreiniger! In Zürich vielleicht, aber hier draußen …«
»In Zürich wirft sich keiner vor den Zug. Wenn schon, dann …«
»Aber klar doch, von der Hardbrücke.«
»Wenn schon, dann …«
»Überhaupt ist es eine verdammte Rücksichtslosigkeit, sich auf die Art und Weise umzubringen. Egal, wer da geputzt hat, solche Bilder brennen sich ein. Und zwar allen, dem Lokführer, dem Zugchef, der Putztruppe. Davon träumst du noch Jahre danach.«
»Um sich umzubringen, geht doch keiner in den Tunnel.«
»Die lange Gerade vor Zug-Schutzengel ist beliebt.«
»Was ›Schutzengel‹?«
»Zug-Schutzengel, das ist ein Vorort bei Zug, also bei der Stadt Zug. Da saß ich schon zweimal im Zug, also in der Eisenbahn, und er fuhr einfach nicht weiter. Viertelstunde, halbe Stunde. Und dann die Durchsage: Personenunfall.«
»Selbstmord, Schutzengel … Wie passt das zusammen?«
»Ist doch egal, vielleicht ist es Zufall, und es ist einfach eine Neunzigerstrecke.«
»Es gibt keine Zufälle«, bemerkte Capaul, um auch wieder einmal etwas zu sagen, aber zu leise, um gehört zu werden.
»Cazis, in Graubünden werfen sie sich bei Cazis vor den Zug. Weil dort die Klinik ist.«
»Damit sie sich gleich wieder zusammenflicken lassen können?«
»Nicht so eine Klinik, Idiot, die Psychiatrie.«
»Das war einmal, jetzt kommt man nicht mehr so leicht aufs Trassee, sie haben einen Zaun gebaut.«
»Wie auch immer, da müsste einer schon sehr, sehr bekloppt sein, um extra nach Preda zu fahren und in den Tunnel zu schleichen, um sich umzubringen.«
Unverhofft erhielt Capaul von hinten einen Schlag auf die Schulter und zuckte zusammen. Es war der auf dem Bock. »Wir werden nach La Punt kutschiert, weil wir dort einquartiert sind. Willst du vorher raus?«
»Nein, nicht nötig«, sagte Capaul, sprang dann aber doch schon in Bever ab. Er aß am Bahnhof einen Appenzeller Biber aus dem Automaten und rief nochmals Jon Luca an. Der drückte den Anruf allerdings weg.
III
Als Capaul zum Wassermann kam, stellte Bernhild gerade die Wirtstafel vor die Tür. Darauf stand: Ab 12 Uhr geöffnet. Sie war noch immer im Bademantel.
»Sieh mich an«, stöhnte sie, »seit sechs Uhr ein Kommen und Gehen, eben sind die Letzten raus. Nicht einmal das Haar richten konnte ich.«
Er sah keinen Unterschied zu sonst, und weil ihm nichts zu sagen einfiel, legte er freundlich die Hand auf ihren Arm, solange sie den Schlüssel drehte. Seufzend lehnte sie sich an ihn, und plötzlich wurde sie ganz weich.
»Ich sterbe vor Hunger«, stellte Capaul fest. »Ist die Küche zu?«
Bernhild bohrte in komischer Verzweiflung die Stirn in seine Schulter, er sah den fast kahlen Haaransatz und roch Schweiß und sauren Kaffeedunst. »Ich habe noch Reste einer Pasta bolognese, die stelle ich dir in die Mikrowelle. Aber dann gehe ich hoch.«
Er folgte ihr in die Küche. »Was war denn los?«
»Ein Toter im Tunnel, zwei Stunden lang war die Strecke nach Bergün blockiert. Erst kamen die Rangierarbeiter, die nicht weitermachen konnten, dann drei oder vier gestrandete Reisegruppen. Und zuletzt Fluri, der Lokführer, der die Leiche gefunden hat. Es brauchte drei Kaffee-Schnaps, bis er überhaupt anfangen konnte zu erzählen. Ich habe sie ihm mit einem Trinkhalm serviert, weil er so gezittert hat. Bediene du mal drei Gruppen und spiele gleichzeitig Kummermutter.«
»Armer Fluri«, sagte Capaul, obwohl er ihn nicht kannte. »Ich war ja auch im Zug. Also im blockierten.«
»Ja, stimmt«, sagte sie und trug ihm den Teller in die Gaststube. »Streukäse ist auf dem Tisch.«
»Danach bin ich das Val – die Val Bever hinabgewandert. Dieser Märchenweg ist ja toll.«
»Die Senda da parevlas, mit Skulpturen unter anderem von Not Vital und Geschichten von Dichterinnen des Tals wie Milli Weber, die mit ihren Zeichnungen von Blumenkindern Berühmtheit erlangt hat«, sagte sie mechanisch auf, während sie noch eben die Krümel auf dem Tisch mit einem nassen Lappen verschob.
Capaul setzte sich und verschlang die Nudeln. »Mag sein, aber da ist viel mehr«, versicherte er kauend. »Vor allem diese Märchenerzählerin. Oder vielleicht ist sie auch eine Fee oder Hexe. Das wollte ich eben von dir wissen.«
»Nein, die Senda da parevlas, das sind sechs Skulpturen und sechs oder sieben Märchen, die man dort auf Tafeln lesen kann«, sagte sie und ging schon zur Treppe.
»Ich schwöre dir, da war diese blonde Frau, sie haust in einem angemalten Wägelchen, und wenn man mit ihr redet, wird einem ganz anders. Und ein Hotzenplotz, und …«
Sie machte kehrt. »Moment, was heißt, dir wurde ›anders‹?«, fragte sie gereizt. »Du plauderst mit dieser Frau, und dir wird ›anders‹?«
»Oh, das