Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil

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Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil

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bloß, daß ihm schweres Unrecht geschehen sei. Ruhig zu schlafen, gehörte nach seiner Ansicht zu den Haupttugenden eines Diplomaten, denn es war eine Bedingung jedes Erfolgs. Man durfte ihn da nicht antasten, und er empfand sich durch Diotimas Bemerkung ernstlich in Frage gestellt. Er begriff, daß Veränderungen mit ihr vorgegangen seien. Es fiel ihm zwar nicht einmal im Schlaf ein, seine Frau greifbarer Untreue zu verdächtigen, dennoch stand es keinen Augenblick in Zweifel für ihn, daß das persönliche Unbehagen, das ihm zugefügt worden, mit Arnheim Zusammenhängen müsse. Er schlief sozusagen zornig bis zum Morgen durch und wachte mit dem festen Entschluß auf, um diese störende Person Klarheit zu schaffen.

      51

      Das Haus Fischel

      Direktor Fischel von der Lloyd-Bank war jener Bankdirektor, oder richtiger gesagt Bankprokurist mit dem Titel Direktor, der eine Einladung des Grafen Leinsdorf aus zunächst unbegreiflichen Gründen zu beantworten vergessen hatte und danach nicht wieder eingeladen wurde. Und auch jene erste Aufforderung hatte er nur den Beziehungen seiner Gattin Klementine verdankt. Klementine Fischel stammte aus einer alten Beamtenfamilie, ihr Vater war Präsident des Obersten Rechnungshofes gewesen, ihr Großvater Kameralrat, und drei ihrer Brüder nahmen hohe Stellungen in verschiedenen Ministerien ein. Sie hatte vor vierundzwanzig Jahren Leo aus zwei Gründen geheiratet; erstens weil hohe Beamtenfamilien manchmal mehr Kinder als Vermögen besitzen, zweitens aber auch aus Romantik, weil ihr im Gegensatz zu der peinlich sparsamen Begrenztheit ihres Elternhauses das Bankwesen als ein freigeistiger, zeitgemäßer Beruf erschienen war und ein gebildeter Mensch im neunzehnten Jahrhundert den Wert eines anderen Menschen nicht danach beurteilt, ob er Jude oder Katholik ist; ja, wie es damals war, empfand sie nahezu etwas besonders Gebildetes dabei, sich über das naive antisemitische Vorurteil des gewöhnlichen Volks hinwegzusetzen.

      Die Arme mußte später erleben, daß in ganz Europa ein Geist des Nationalismus emporkam und mit ihm auch eine Welle der Judenangriffe hochstieg, die ihren Mann sozusagen in ihren Armen aus einem geachteten Freigeist in den Ätzgeist eines bodenfremden Abstämmlings verwandelte. Anfangs hatte sie sich dagegen mit dem ganzen Ingrimm eines «groß denkenden Herzens» aufgelehnt, aber mit den Jahren wurde sie von der naiv grausamen, immer weiter um sich greifenden Feindseligkeit zermürbt und von dem allgemeinen Vorurteil eingeschüchtert. Ja, sie mußte es sogar erleben, daß sie vor sich selbst bei den Gegensätzen, die sich zwischen ihr und ihrem Mann allmählich immer heftiger auftaten, – als er aus Gründen, über die er niemals richtig Auskunft geben wollte, über die Stufe eines Prokuristen nicht wegkam und alle Aussicht verlor, jemals wirklicher Bankdirektor zu werden – manches, was sie verletzte, achselzuckend damit erklärte, daß Leos Charakter eben doch dem ihren fremd sei, wenn sie auch gegen Außenstehende die Grundsätze ihrer Jugend niemals preisgab.

      Diese Gegensätze bestanden freilich im Grunde aus nichts anderem als dem Mangel an Übereinstimmung; wie in vielen Ehen ein sozusagen natürliches Unglück an die Oberfläche kommt, sobald sie aufhören, verblendet glücklich zu sein. Seit die Laufbahn Leos zögernd auf dem Posten eines Börsendisponenten stecken geblieben war, vermochte Klementine nicht mehr, gewisse seiner Eigenheiten damit zu entschuldigen, daß er eben nicht in einem spiegelstillen alten Ministerialbüro, sondern am «sausenden Webstuhl der Zeit» sitze, und wer weiß, ob sie ihn nicht gerade wegen dieses Goethezitats geheiratet hatte?! Sein ausrasierter Backenbart, der sie seinerzeit gemeinsam mit dem auf der Mitte der Nase thronenden Kneifer an einen englischen Lord mit Favorits erinnert hatte, mahnte sie jetzt an einen Börsenmakler, und einzelne Angewohnheiten in Gebärde und Redeweise begannen ihr geradezu unerträglich zu werden. Klementine versuchte anfangs, ihren Gatten zu verbessern, aber sie stieß dabei auf außergewöhnliche Schwierigkeiten, denn es zeigte sich, daß nirgends in der Welt ein Maß dafür vorhanden ist, ob ein Backenbart rechtmäßig an einen Lord oder an einen Makler erinnert und ein Kneifer einen Platz auf der Nase hat, der zusammen mit einer Handbewegung Enthusiasmus oder Zynismus ausdrückt. Außerdem war aber Leo Fischel auch gar nicht der Mann, der sich hätte verbessern lassen. Er erklärte die Bemängelungen, die das christlich-germanische Schönheitsideal eines Ministerialrats aus ihm machen wollten, für gesellschaftliche Faxen und lehnte ihre Erörterung als eines vernünftigen Mannes unwürdig ab, denn je mehr seine Gattin an Einzelheiten Anstoß nahm, desto mehr betonte er die großen Richtlinien der Vernunft. Dadurch verwandelte sich das Haus Fischel allmählich in den Kampfplatz zweier Weltanschauungen.

      Der Lloyd-Bank-Direktor Fischel philosophierte gern, aber nur zehn Minuten täglich. Er liebte es, das menschliche Dasein als vernünftig begründet zu erkennen, glaubte an seine geistige Rentabilität, die er sich gemäß der wohlgegliederten Ordnung einer Großbank vorstellte, und nahm täglich mit Gefallen zur Kenntnis, was er von neuen Fortschritten in der Zeitung las. Dieser Glaube an die unerschütterlichen Richtlinien der Vernunft und des Fortschritts hatte es ihm lange Zeit ermöglicht, über die Ausstellungen seiner Frau mit einem Achselzucken oder einer schneidenden Antwort hinwegzugehn. Aber da es das Unglück gewollt hatte, daß sich im Verlauf dieser Ehe die Zeitstimmung von den alten, Leo Fischel günstigen Grundsätzen des Liberalismus, den großen Richtbildern der Freigeistigkeit, der Menschenwürde und des Freihandels abwandte, und Vernunft und Fortschritt in der abendländischen Welt durch Rassentheorien und Straßenschlagworte verdrängt wurden, so blieb auch er nicht unberührt davon. Er hatte diese Entwicklung anfangs schlechtweg geleugnet, genau so wie Graf Leinsdorf gewisse «unliebsame Erscheinungen öffentlicher Natur» zu leugnen pflegte; er wartete darauf, daß sie von selbst verschwinden würden, und dieses Warten ist der erste, kaum noch fühlbare Grad der Tortur des Ärgers, die das Leben über Menschen mit aufrechter Gesinnung verhängt. Der zweite Grad heißt gewöhnlich, und hieß darum auch bei Fischel so, das «Gift». Das Gift ist das tropfenweise Auftreten neuer Anschauungen in Moral, Kunst, Politik, Familie, Zeitungen, Büchern und Verkehr, das bereits von einem ohnmächtigen Gefühl der Unwiderruflichkeit begleitet wird und von empörter Leugnung, die eine gewisse Anerkennung des Vorhandenseins nicht vermeiden kann. Direktor Fischel blieb aber auch der dritte und letzte Grad nicht erspart, wo die einzelnen Schauer und Strähnen des Neuen zu einem dauernden Regen zusammengeronnen sind, und mit der Zeit wird das zu einer der entsetzlichsten Martern, die ein Mensch erleben kann, der täglich nur zehn Minuten Zeit für Philosophie hat.

      Leo lernte kennen, in wieviel Dingen der Mensch verschiedene Meinungen haben kann. Der Trieb, recht zu haben, ein Bedürfnis, das fast gleichbedeutend mit Menschenwürde ist, begann im Hause Fischel Ausschreitungen zu feiern. Dieser Trieb hat in Jahrtausenden Tausende bewundernswerter Philosophien, Kunstwerke, Bücher, Taten und Parteigängerschaften hervorgebracht, und wenn dieser bewundernswerte, aber auch fanatische und ungeheure, mit der menschlichen Natur geborene Trieb sich mit zehn Minuten Lebensphilosophie oder Aussprache über die grundsätzlichen Fragen des Hauswesens begnügen muß, so ist es unvermeidlich, daß er wie ein Tropfen glühenden Bleis in ungezählte Spitzen und Zacken zerplatzt, die auf das schmerzhafteste verwunden können. Er zersprang an der Frage, ob ein Hausmädchen zu entlassen sei oder nicht, und ob Zahnstocher auf den Tisch gehören oder nicht; aber woran immer er zersprang, besaß er die Fähigkeit, sich sofort zu zwei, an Einzelheiten unerschöpflich reichen, Weltanschauungen zu ergänzen.

      Das ging bei Tage an, denn da war Direktor Fischel in seinem Büro, in der Nacht aber war er Mensch, und das verschlimmerte ungemein das Verhältnis zwischen ihm und Klementine. Im Grunde kann sich ein Mensch bei der heutigen Kompliziertheit aller Dinge doch nur auf einem Gebiet voll auskennen, und das waren bei ihm Lombarden und Effekten, weshalb er nachts zu einer gewissen Nachgiebigkeit neigte. Klementine dagegen blieb auch dann spitz und unnachgiebig, denn sie war in der pflichtbewußten, beständigen Atmosphäre eines Beamtenhauses aufgewachsen, und dazu duldete ihr Standesbewußtsein nicht getrennte Schlafräume, um die ohnehin unzureichende Wohnung nicht noch mehr zu verkleinern. Gemeinsame Schlafräume aber bringen einen Mann, wenn sie verfinstert sind, in die Lage eines Schauspielers, der vor einem unsichtbaren Parkett die dankbare, aber schon sehr abgespielte Rolle eines Helden darstellen muß, der einen fauchenden Löwen vorzaubert. Seit Jahren hatte sich Leos dunkler Zuschauerraum dabei weder den leisesten Applaus noch das geringste Zeichen von Ablehnung entschlüpfen lassen, und man darf sagen, daß das die stärksten Nerven erschüttern

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