Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil

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Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil

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willst doch nicht behaupten, daß man es dabei bewenden lassen kann?!»

      «Ich möchte es dabei bewenden lassen» sagte Ulrich ruhig. «Unsere Anschauung von unserer Umgebung, aber auch von uns selbst, ändert sich mit jedem Tag. Wir leben in einer Durchgangszeit. Vielleicht dauert sie, wenn wir unsere tiefsten Aufgaben nicht besser anpacken als bisher, bis zum Ende des Planeten. Trotzdem soll man, wenn man ins Dunkel gestellt ist, nicht wie ein Kind aus Angst zu singen beginnen. Ein solcher Gesang aus Angst ist es aber, wenn man so tut, als wüßte man, wie man sich hienieden zu benehmen hat; da kannst du grundstürzend brüllen, es ist doch nur Angst! Übrigens bin ich überzeugt: Wir galoppieren! Wir sind noch weit von den Zielen entfernt, sie rücken nicht näher, wir sehen sie überhaupt nicht, wir werden uns noch oft verreiten und die Pferde wechseln müssen; aber eines Tags – übermorgen oder in zweitausend Jahren – wird der Horizont zu fließen beginnen und uns brausend entgegenstürzen!»

      Es war dämmerig geworden. «Niemand kann mir ins Gesicht sehn» dachte Ulrich. «Ich weiß nicht einmal selbst, ob ich lüge.» Er sprach, wie man in einem Augenblick, der seiner selbst nicht gewiß ist, das Ergebnis jahrzehntelanger Gewißheit zusammenfaßt. Er erinnerte sich daran, daß doch dieser Jugendtraum längst hohl geworden war, den er Walter vorhielt. Er wollte nicht mehr weiter reden.

      «Und wir sollen» erwiderte Walter mit Schärfe «auf jeden Sinn des Lebens verzichten?!»

      Ulrich fragte ihn, wozu er eigentlich einen Sinn brauche? Es ginge doch auch so, meinte er.

      Clarisse kicherte. Sie meinte es nicht bös, die Frage war ihr so spaßhaft vorgekommen.

      Walter zündete Licht an, denn es schien ihm nicht nötig zu sein, daß Ulrich vor Clarisse den Vorteil des dunklen Mannes ausnütze. Ärgerliche Blendung überschüttete die drei.

      Ulrich erläuterte verstockt: «Was man im Leben braucht, ist bloß die Überzeugung, daß das Geschäft besser geht als das des Nachbarn. Das heißt: deine Bilder, meine Mathematik, irgendjemandes Kinder und Frau; alles das, was einem Menschen versichert, daß er zwar in keiner Weise etwas Ungewöhnliches ist, aber in dieser Weise, keinerweise etwas Ungewöhnliches zu sein, doch nicht so leicht seinesgleichen hat!»

      Walter hatte sich noch nicht wieder hingesetzt. Unruhe war in ihm. Triumph. Er rief aus: «Weißt du, was du da sagst? Fortwursteln! Du bist einfach ein Österreicher. Du lehrst die österreichische Staatsphilosophie des Fortwurstelns!»

      «Das ist vielleicht nicht so übel, wie du denkst» gab Ulrich zur Antwort. «Man kann aus einem leidenschaftlichen Bedürfnis nach Schärfe und Genauigkeit oder Schönheit dahin kommen, daß einem Fortwursteln besser gefällt als alle Anstrengungen in neuem Geiste! Ich wünsche dir dazu Glück, daß du Österreichs Weltsendung entdeckt hast.»

      Walter wollte erwidern. Aber es zeigte sich, daß das Gefühl, das ihn in die Höhe getrieben hatte, nicht nur Triumph war, sondern – wie sagt man es? – auch der Wunsch, einen Augenblick hinauszugehen. Er schwankte zwischen den zwei Wünschen. Aber beides ließ sich nicht vereinen, und sein Blick glitt von Ulrichs Augen ab auf den Weg zur Türe.

      Als sie allein waren, sagte Clarisse: «Dieser Mörder ist musikalisch. Das heißt –» sie hielt ein, dann fuhr sie geheimnisvoll fort: «Man kann gar nichts sagen, aber du mußt etwas für ihn tun.»

      «Was soll ich denn tun?»

      «Ihn befrein.»

      «Du träumst wohl?»

      «Du meinst doch alles gar nicht so, wie du es zu Walter sagst?!» fragte Clarisse, und ihre Augen schienen ihn zu einer Antwort zu drängen, deren Inhalt er nicht erraten konnte.

      «Ich weiß nicht, was du willst?» sagte er.

      Clarisse sah ihm eigensinnig auf die Lippen; dann wiederholte sie: «Du solltest trotzdem das tun, was ich gesagt habe; du würdest verwandelt werden.»

      Ulrich betrachtete sie. Er begriff nicht recht. Er mußte etwas überhört haben; einen Vergleich oder irgendein Wiewenn, das ihrer Rede Sinn gab. Es klang sehr sonderbar, sie ohne diesen Sinn so natürlich sprechen zu hören, als handelte es sich um eine gewöhnliche Erfahrung, die sie gemacht habe.

      Aber da kehrte Walter zurück. «Ich kann dir ja zugeben –» begann er. Die Unterbrechung hatte das Gespräch entschärft.

      Er saß wieder auf seinem Stühlchen am Klavier und sah befriedigt seine Schuhe an, an denen Erde haftete. Er dachte: «Warum haftet an Ulrichs Schuh keine Erde? Sie ist die letzte Rettung des europäischen Menschen.»

      Ulrich aber sah die Beine über Walters Schuhen an; sie staken in schwarzen Strümpfen aus Baumwolle und hatten die unschöne Form weicher Mädchenbeine. «Man muß es schätzen, wenn ein Mann heute noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein» sagte Walter.

      «Das gibt es nicht mehr» meinte Ulrich. «Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzusehen. Sie ist von einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so viel Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal; man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit.»

      «Sehr richtig» sagte Walter sofort. «Es gibt eben keine ganze Bildung mehr im Goetheschen Sinn. Aber darum gibt es heute auch zu jedem Gedanken einen Gegengedanken und zu jeder Neigung gleich die entgegengesetzte. Jede Tat und ihr Gegenteil finden heute im Intellekt die scharfsinnigsten Gründe, mit denen man sie sowohl verteidigen wie verurteilen kann. Ich begreife nicht, wie du das in Schutz nehmen magst!»

      Ulrich zuckte die Achseln.

      «Man muß sich ganz zurückziehn» sagte Walter leise.

      «Es geht doch auch so» erwiderte ihm der Freund. «Vielleicht sind wir auf dem Weg zum Ameisenstaat oder irgend einer anderen unchristlichen Aufteilung der Leistungen.» Ulrich bemerkte bei sich, daß man ebensogut übereinstimmen könne wie sich streiten. In der Höflichkeit lag die Verachtung so klar wie ein Leckerbissen in Aspik. Er wußte, daß auch seine letzten Worte Walter ärgern mußten, aber er begann sich danach zu sehnen, einmal mit einem Menschen zu sprechen, mit dem er ganz übereinstimmen könnte. Solche Gespräche hatte es zwischen Walter und ihm einst gegeben. Da werden die Worte von einer geheimen Kraft aus der Brust geholt, und keines verfehlt sein Ziel. Wenn man dagegen mit Abneigung spricht, steigen sie wie Nebel von einer Eisfläche auf. Er sah Walter ohne Groll an. Er war sicher, daß auch der das Gefühl hatte, sich durch dieses Gespräch, je weiter es gehe, desto mehr in seiner inneren Meinung zu verunstalten, aber die Schuld daran ihm beimaß. «Alles, was man denkt, ist entweder Zuneigung oder Abneigung!» dachte Ulrich. Das kam ihm in diesem Augenblick so lebhaft als richtig vor, daß er es wie einen körperlichen Zwang empfand, ähnlich dem berührenden Schwanken eng aneinandergeschlossener Menschen. Er sah sich nach Clarisse um.

      Aber Clarisse hörte scheinbar schon seit längerem nicht mehr zu; sie hatte irgendwann die Zeitung aufgenommen, die vor ihr auf dem Tisch gelegen war; dann hatte sie in sich geforscht, warum ihr das ein so tiefes Vergnügenmache. Sie fühlte die unermeßliche Undurchsichtigkeit, von der Ulrich gesprochen hatte, vor den Augen und die Zeitung zwischen den Händen. Die Arme entfalteten die Dunkelheit und öffneten sich selbst. Die Arme bildeten mit dem Stamm des Leibes zwei Kreuzbalken, und dazwischen hing die Zeitung. Das war das Vergnügen, aber die Worte, mit denen es zu beschreiben ist, kamen nicht in Clarisse vor. Sie wußte bloß, daß sie auf die Zeitung sah, ohne zu lesen, und daß ihr vorkam, in Ulrich stecke etwas barbarisch Geheimnisvolles, eine ihr selbst verwandte Kraft, ohne daß

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