Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil
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Und in seinen großen Zeiten beachtete Moosbrugger gar nicht die Stimmen und Gesichte, sondern er dachte. Er nannte das so, weil ihm dieses Wort immer Eindruck gemacht hatte. Er dachte besser als andere, denn er dachte außen und innen. Es wurde gegen seinen Willen in ihm gedacht. Er sagte, Gedanken würden ihm gemacht. Und ohne daß er seine langsame männliche Bedächtigkeit verlor, erregten ihn auch die geringsten Nebensachen, wie es einer Frau geschieht, wenn ihr die Milch in den Brüsten steht. Sein Denken floß dann wie ein von Hunderten springender Bäche getränkter Bach durch eine fette Wiese. Moosbrugger hatte nun den Kopf sinken lassen und sah auf das Holz zwischen seinen Fingern. «Da sagen hier die Leute zu einem Eichhörnchen Eichkatzl» fiel ihm ein; «aber es sollte bloß einmal einer versuchen, mit dem richtigen Ernst auf der Zunge und im Gesicht ‹Die Eichenkatze› zu sagen! Alle würden aufschaun, wie wenn mitten im furzenden Plänklerfeuer eines Manöverangriffs ein scharfer Schuß fällt! In Hessen sagen sie dagegen Baumfuchs. Ein weitgewanderter Mensch weiß so etwas.» Und da taten die Psychiater wunder wie neugierig, wenn sie Moosbrugger das gemalte Bild eines Eichhörnchens zeigten, und er darauf antwortete: «Das ist halt ein Fuchs oder vielleicht ist es ein Hase; es kann auch eine Katz sein oder so.» Sie fragten ihn dann jedesmal recht schnell: «Wieviel ist vierzehn mehr vierzehn?» Und er antwortete ihnen bedächtig: «So ungefähr achtundzwanzig bis vierzig.» Dieses «Ungefähr» bereitete ihnen Schwierigkeiten, über die Moosbrugger schmunzelte. Denn es ist ganz einfach; er weiß auch, daß man bei achtundzwanzig anlangt, wenn man von der Vierzehn um vierzehn weitergeht, aber wer sagt denn, daß man dort stehen bleiben muß?! Moosbruggers Blick schweift noch um ein Stück weiter, wie der eines Mannes, der einen in den Himmel gezeichneten Hügelkamm erreicht hat und nun sieht, daß es ähnliche Hügelkämme dahinter noch mehrere gibt. Und wenn ein Eichkatzl keine Katze ist und kein Fuchs und statt eines Horns Zähne hat wie der Hase, den der Fuchs frißt, so braucht man die Sache nicht so genau zu nehmen, aber sie ist in irgend einer Weise aus alledem zusammengenäht und läuft über die Bäume. Nach Moosbruggers Erfahrung und Überzeugung konnte man kein Ding für sich herausgreifen, weil eins am anderen hing. Und es war in seinem Leben auch schon vorgekommen, daß er zu einem Mädchen sagte: «Ihr lieber Rosenmund!», aber plötzlich ließ das Wort in den Nähten nach, und es entstand etwas sehr Peinliches: das Gesicht wurde grau, ähnlich wie Erde, über der Nebel liegt, und auf einem langen Stamm stand eine Rose hervor; dann war die Versuchung, ein Messer zu nehmen und sie abzuschneiden oder ihr einen Schlag zu versetzen, damit sie sich wieder ins Gesicht zurückziehe, ungeheuer groß. Gewiß, Moosbrugger nahm nicht immer gleich das Messer; er tat das nur, wenn er nicht mehr anders fertig wurde. Gewöhnlich wendete er eben seine ganze Riesenkraft an, um die Welt zusammenzuhalten.
Er konnte bei guter Laune einem Mann ins Gesicht schauen und bemerkte darin sein eigenes Gesicht, wie es zwischen Fischchen und hellen Steinen aus einem seichten Bach zurückblickt; in schlechter Laune brauchte er aber nur flüchtig das Gesicht eines Mannes zu prüfen und erkannte, daß es derselbe Mann war, mit dem er noch überall Streit bekommen hatte, wie sehr sich der auch jedesmal anders verstellte. Was will man ihm einwenden?! Wir alle haben fast immer mit dem gleichen Mann Streit. Wenn man untersuchen würde, wer die Menschen sind, an denen wir so unsinnig hängen bleiben, so müßte sich zeigen, es ist der Mann mit dem Schlüsselbart, zu dem wir das Schloß haben. Und in der Liebe? Wieviel Menschen sehen tagaus, tagein in das gleiche geliebte Gesicht, aber wissen, wenn sie die Augen schließen, nicht zu sagen, wie es aussieht. Oder auch ohne Liebe und Haß: welchen Veränderungen sind die Dinge unaufhörlich je nach Gewohnheit, Laune und Standpunkt ausgesetzt! Wie oft brennt Freude ab, und es kommt ein unzerstörbarer Kern von Trauer hervor?! Wie oft schlägt ein Mensch gleichmütig auf einen anderen ein, aber könnte ihn ebenso in Ruhe lassen. Das Leben bildet eine Oberfläche, die so tut, als ob sie so sein müßte, wie sie ist, aber unter ihrer Haut treiben und drängen die Dinge. Moosbrugger stand immer mit den Beinen auf zwei Schollen und hielt sie zusammen, vernünftig bemüht, alles zu vermeiden, was ihn verwirren konnte; aber manchmal brach ihm ein Wort im Munde auf, und welche Revolution und welcher Traum der Dinge quoll dann aus so einem erkalteten, ausgeglühten Doppelwort wie Eichkätzchen oder Rosenlippe!
Wie er da auf seiner Bank in der Zelle saß, die zugleich sein Bett und sein Tisch war, beklagte er seine Erziehung, die ihn nicht gelehrt hatte, seine Erfahrungen so auszudrücken, wie es sein müßte. Die kleine Person mit den Mausaugen, die ihm noch jetzt, wo sie schon lang unter der Erde lag, soviel Unannehmlichkeiten bereitete, ärgerte ihn. Alle waren auf ihrer Seite. Er stand schwerfällig auf. Er fühlte sich morsch wie verkohltes Holz. Er hatte wieder Hunger; die Anstaltskost war zu gering für den gewaltigen Mann, und er besaß kein Geld, um sie zu verbessern. In einem solchen Zustand konnte er sich unmöglich auf alles besinnen, was man von ihm wissen wollte. Es war eben so eine Veränderung gekommen, tagelang, wochenlang, wie der März kommt oder der April, und obenauf war dann die Geschichte geschehn. Er wußte auch nicht mehr von ihr, als im Polizeiprotokoll stand, und wußte nicht einmal, wie das dort hineingekommen war. Die Gründe, die Überlegungen, an die er sich erinnerte, die hatte er ohnedies schon in der Verhandlung gesagt; aber was wirklich geschehen war, das kam ihm so vor, als ob er plötzlich fließend etwas in einer fremden Sprache gesprochen hätte, das ihn sehr glücklich gemacht hatte, das er aber nicht mehr wiederholen konnte.
«Soll das alles nur so bald wie möglich ein Ende nehmen!» dachte Moosbrugger.
60
Ausflug ins logisch-sittliche Reich
Was über Moosbrugger von Rechts wegen zu sagen war, das hätte man in einem Satz vorbringen können. Moosbrugger war einer jener Grenzfälle, die aus der Jurisprudenz und Gerichtsmedizin auch den Laien als die Fälle der verminderten Zurechnungsfähigkeit bekannt sind.
Bezeichnend