Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil

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Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil

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Natur hat eine merkwürdige Vorliebe dafür, solche Personen in Hülle und Fülle hervorzubringen; natura non fecit saltus, sie macht keinen Sprung, sie liebt die Übergänge und hält auch im großen die Welt in einem Übergangszustand zwischen Schwachsinn und Gesundheit. Aber die Jurisprudenz nimmt nicht Notiz davon. Sie sagt: non datur tertium sive medium inter duo contradictoria, zu deutsch: der Mensch ist entweder imstande, rechtswidrig zu handeln, oder er ist es nicht, denn zwischen zwei Gegensätzen gibt es nichts Drittes und Mittleres. Durch diese Fähigkeit wird er strafbar, durch diese seine Eigenschaft der Strafbarkeit wird er Rechtsperson, und als Rechtsperson hat er teil an der überpersönlichen Wohltat des Rechts. Wer das nicht gleich versteht, der denke an die Kavallerie. Wenn ein Pferd sich bei jedem Versuch, es zu reiten, wie toll benimmt, so wird es mit besonderer Sorgfalt gewartet, bekommt die weichsten Bandagen, die besten Reiter, das ausgewählteste Futter und die geduldigste Behandlung. Wenn sich dagegen ein Reiter etwas zuschulden kommen läßt, so steckt man ihn in einen von Flöhen besetzten Käfig, entzieht ihm das Essen und gibt ihm Eisenschellen. Die Begründung dieses Unterschieds liegt darin, daß das Pferd bloß dem tierisch empirischen Reich angehört, während der Dragoner an dem logisch-sittlichen teilhat. In diesem Sinne zeichnet es den Menschen vor dem Tiere, und man darf hinzufügen, auch vor dem Geisteskranken aus, daß er nach seinen geistigen und sittlichen Eigenschaften imstande ist, rechtswidrig zu handeln und ein Verbrechen zu begehn; und da also erst die Strafbarkeit jene Eigenschaft ist, die ihn zum sittlichen Menschen erhebt, wird es verständlich, daß der Jurist eisern an ihr festhalten muß.

      Leider tritt noch hinzu, daß die Gerichtspsychiater, die berufen wären, sich dem entgegenzusetzen, gewöhnlich viel ängstlicher in ihrem Beruf sind als die Juristen; sie erklären nur solche Personen für wirklich krank, die sie nicht heilen können, was eine bescheidene Übertreibung ist, denn sie können die anderen auch nicht heilen. Sie unterscheiden zwischen unheilbaren Geisteskrankheiten, zwischen solchen, die mit Gottes Hilfe nach einiger Zeit von selbst besser werden, und endlich solchen, die der Arzt zwar auch nicht heilen kann, wohl aber der Patient vermeiden könnte, vorausgesetzt natürlich, daß durch höhere Fügung rechtzeitig die richtigen Einflüsse und Überlegungen auf ihn einwirken. Diese zweite und dritte Gruppe liefert jene nur minderwertigen Kranken, die der Engel der Medizin zwar als Kranke behandelt, wenn sie zu ihm in die Privatpraxis kommen, die er aber schüchtern dem Engel des Rechts überläßt, wenn er mit ihnen in der Gerichtspraxis zusammenstößt.

      Ein solcher Fall war Moosbrugger. Man hatte ihn während seines von den Verbrechen eines unheimlichen Blutrausches unterbrochenen ehrlichen Lebens ebenso oft in Irrenhäusern zurückgehalten wie entlassen, und er hatte als Paralytiker, Paranoiker, Epileptiker und zirkulär Irrer gegolten, ehe ihm in der letzten Verhandlung zwei besonders gewissenhafte Gerichtsärzte seine Gesundheit wieder Zurückgaben. Natürlich befand sich damals in dem großen, menschenerfüllten Saal keine einzige Person, sie inbegriffen, die nicht davon überzeugt gewesen wäre, daß Moosbrugger in irgendeiner Weise krank sei; aber es war keine Weise, die den vom Gesetz gestellten Bedingungen entsprach und von gewissenhaften Gehirnen anerkannt werden durfte. Denn wenn man teilweise krank ist, ist man nach Ansicht der Rechtslehrer auch teilweise gesund; ist man aber teilweise gesund, so ist man wenigstens teilweise zurechnungsfähig; und ist man teilweise zurechnungsfähig, so ist man es ganz; denn Zurechnungsfähigkeit ist, wie sie sagen, der Zustand des Menschen, in dem er die Kraft besitzt, unabhängig von jeder ihn zwingenden Notwendigkeit sich aus sich selbst für einen bestimmten Zweck zu bestimmen, und eine solche Bestimmtheit kann man nicht gleichzeitig besitzen und entbehren.

      Zwar schließt das nicht aus, daß es Personen gibt, deren Zustände und Anlagen es ihnen erschweren, «unsittlichen Antrieben» zu widerstehn und den «Ausschlag zum Guten» zu finden, wie die Juristen das nennen, und eine solche Person, in der Umstände, die einen anderen noch gar nicht berühren, schon den «Entschluß» zu einer Straftat hervorrufen, war Moosbrugger. Aber erstens waren seine Geistes- und Verstandeskräfte nach Ansicht des Gerichts soweit unbeschädigt, daß bei ihrer Anwendung die Tat ebensogut unausgeführt hätte bleiben können, und es bestand sonach kein Grund, ihn von dem sittlichen Gut der Verantwortung auszuschließen. Zweitens fordert es eine geordnete Rechtspflege, daß jede schuldige Handlung bestraft wird, wenn sie mit Wissen und Willen vollendet wurde. Und drittens nimmt die juristische Logik an, daß in allen Geisteskranken – mit Ausnahme jener ganz unglücklichen, welche die Zunge herausstrecken, wenn man sie fragt, wieviel sieben mal sieben ist, oder «Ich» sagen, wenn sie den Namen Sr. Kaiser- und Königlichen Majestät angeben sollen – ein Minimum von Unterscheidungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit noch vorhanden sei, und es hätte bloß einer besonderen Anspannung der Intelligenz und Willenskraft bedurft, um den verbrecherischen Charakter der Tat zu erkennen und den verbrecherischen Antrieben zu widerstehn. Das ist aber wohl das mindeste, was man von so gefährlichen Personen verlangen darf.

      Gerichtshöfe gleichen Kellern, in denen die Weisheit der Vorvordern in Flaschen liegt; man öffnet diese und möchte darüber weinen, wie ungenießbar der höchste, ausgegorenste Grad menschlicher Genauigkeitsanstrengung wird, ehe er vollkommen ist. Dennoch scheint er unabgehärtete Personen zu berauschen. Es ist eine bekannte Erscheinung, daß der Engel der Medizin, wenn er längere Zeit den Ausführungen der Juristen zugehört hat, sehr oft seine eigene Sendung vergißt. Er schlägt dann klirrend die Flügel zusammen und benimmt sich im Gerichtssaal wie ein Reserveengel der Jurisprudenz.

      61

      Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens

      Auf diese Weise war Moosbrugger zu seinem Todesurteil gekommen und verdankte es nur dem Einfluß des Grafen Leinsdorf und dessen freundlicher Gesinnung für Ulrich, daß Aussicht bestand, sein Geisteszustand werde noch einmal geprüft werden. Ulrich hatte jedoch damals keineswegs die Absicht, für Moosbruggers Schicksal auch im weiteren Verlauf zu sorgen. Die entmutigende Mischung von Grausamkeit und Erleiden, die das Wesen solcher Menschen ist, war ihm ebenso unangenehm wie die Mischung von Genauigkeit und Fahrlässigkeit, die das Merkmal der Urteile bildet, die man über sie zu fällen pflegt. Er wußte genau, was er von ihm zu denken hatte, wenn er den Fall nüchtern ansah, und welche Maßnahmen man mit solchen Menschen versuchen könnte, die weder ins Gefängnis noch in die Freiheit gehören und für die auch die Irrenanstalten nicht ausreichen. Es war ihm aber ebenso gegenwärtig, daß Tausende anderer Menschen das auch wußten, daß von ihnen jede solche Frage unablässig erörtert und nach den Seiten gewendet wird, an denen sie besonderen Anteil nehmen, und daß der Staat schließlich Moosbrugger umbringen wird, weil das in einem solchen Zustand der Unfertigkeit einfach das Klarste, Billigste und Sicherste ist. Es mag ein rohes Verhalten sein, sich damit abzufinden, aber auch die schnellen Verkehrsmittel fordern mehr Opfer als alle Tiger Indiens, und offenbar befähigt uns die rücksichtslose, gewissenlose und fahrlässige Gesinnung, in der wir das ertragen, auf der anderen Seite zu den Erfolgen, die uns nicht abzusprechen sind.

      Ihren bedeutendsten Ausdruck gewinnt diese Geistesverfassung, die für das Nächste so scharfsichtig und für das Ganze so blind ist, in einem Ideal, das man das Ideal eines Lebenswerks nennen könnte, das aus nicht mehr als drei Abhandlungen besteht. Es gibt geistige Tätigkeiten, wo nicht die großen Bücher, sondern die kleinen Abhandlungen den Stolz eines Mannes ausmachen. Wenn jemand beispielsweise entdeckte, daß die Steine unter bisher noch nicht beobachteten Umständen zu sprechen vermögen, er würde nur wenige Seiten zur Darstellung und Erklärung einer so umwälzenden Erscheinung brauchen. Über die gute Gesinnung dagegen kann man immer wieder ein Buch schreiben, und das ist durchaus nicht bloß eine gelehrte Angelegenheit, denn es bedeutet eine Methode, bei der man mit den wichtigsten Lebensfragen niemals ins klare kommt. Man könnte die menschlichen Tätigkeiten nach der Zahl der Worte einteilen, die sie nötig haben; je mehr von diesen, desto schlechter ist es um ihren Charakter bestellt. Alle Erkenntnisse, durch die unsere Gattung von der Fellkleidung zum Menschenflug geführt worden ist, würden samt ihren Beweisen in fertigem Zustand nicht mehr als eine Handbibliothek füllen; wogegen ein Bücherschrank von der Größe der Erde beiweitem nicht genügen möchte, um alles übrige aufzunehmen, ganz abgesehen von der sehr umfangreichen Diskussion, die nicht mit der Feder, sondern mit Schwert und Ketten geführt worden ist. Der Gedanke liegt nahe,

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