Von Dolomiten im Vorgarten und anderen Herausforderungen. Sabine Zinkernagel

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Von Dolomiten im Vorgarten und anderen Herausforderungen - Sabine Zinkernagel

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Was wiederum heißt, dass niemand sagen kann, ob bei einem der Patienten aus den Diät-Broschüren die geschilderten Besserungen auch ohne diese radikalen Essenseinschränkungen eingetreten wären. Auf alle MS-Patienten anwendbar wären diese Erfolgsrezepte nur, wenn von tausend MS-Kranken über 900 die gleichen Erfahrungen gemacht hätten. Wenn das der Fall wäre, dann wüsste auch mein Neurologe davon. Beglückt stelle ich fest, dass ich also alle diese Wunderdiäten getrost vergessen kann. Ich muss nicht auf meine geliebte Schokolade verzichten, ich darf mir weiterhin ab und zu ein Spiegelei braten. Den letzten Rest eines schlechten Gewissens meiner Gesundheit gegenüber vertreibt der Grundsatz, den ich in dem Buch von meiner Mutter finde: „Meiden Sie Stress – und bedenken Sie, dass auch allzu rigide Essens-Vorschriften Stress bedeuten.“ Ich kann ja trotzdem das tun, was der Neurologe mir rät: Überlastung vermeiden, mehrfach ungesättigte Fettsäuren bevorzugen, gelegentlich Fischölkapseln schlucken.

      Als ich das Krankenhaus verlassen und in unsere neue Wohnung einziehen kann, hat das Cortison bereits Wirkung gezeigt: Als Gehhilfe für längere Strecken brauche ich nur noch den Krückstock von Martins Großmutter, das Taubheitsgefühl beschränkt sich auf die Füße. Wenige Wochen später kann ich den Stock weglassen. Nur meine Füße fühlen sich dauerhaft an wie „eingeschlafen“. Außerdem braucht ein Nervenimpuls vom Fuß ein paar Millisekunden länger als üblich, bis er ins Gehirn gelangt; dessen Rückmeldung „Fuß anheben“ verliert unterwegs wieder einige Millisekunden Zeit. Zusammen sorgen diese kaum messbaren Verzögerungen dafür, dass ich schneller als andere Menschen stolpere. Zum Glück läuft die Nachrichtenübertragung in meinen Nerven noch schnell genug, um den Stolperer aufzufangen, bevor er zum Hinfaller wird.

      Das Einzige, worauf ich künftig wohl verzichten muss, sind offene Schuhe. Für die Hochzeit von Freunden habe ich, passend zum Kleid, Slipper angezogen. Und habe plötzlich das Gefühl, auf ungleich langen Beinen zu laufen. Verwundert sehe ich nach unten – und stelle fest, dass mein Gefühl mich an diesem Punkt nicht getrogen hat. Das rechte Bein ist tatsächlich kürzer: Denn am untersten Ende fehlt der Schuh. Der steht einsam und verlassen zehn Meter hinter mir. Dass ich ihn einfach verloren habe, haben meine lädierten Nerven mir nicht mitgeteilt. Aber was soll’s, ich trage ohnehin lieber fest sitzende Schuhe. Und für festliche Anlässe finde ich schnell ein Paar schicke Schnürstiefelchen. Mit diesen kleinen Ausfällen kann man durchaus gut leben.

      Und ich beschließe, wirklich gut zu leben.

      Sprich: Auf meine Krankheit Rücksicht nehmen, wo es unabdingbar ist, aber mein Leben nicht von ihr bestimmen lassen. Mein erster Gedanke morgens und mein letzter vor dem Einschlafen sollen ganz gewiss nicht der Frage gelten, ob sich das Taubheitsgefühl in den Füßen verstärkt hat oder nicht. Ich will weiterhin „Sabine Zinkernagel“ sein, später auch „die Pfarrfrau“ oder „die Mama von xy“. Meine Umwelt soll mich als ehrliche Christin, als Ehefrau und Mutter und vieles mehr wahrnehmen, und nur höchstens irgendwann am Rande als „MS-Kranke“.

      Als eine Bekannte fragt: „Ich habe gehört, du leidest an MS! Stimmt das wirklich?“, antworte ich wahrheitsgemäß mit „Nein“.

      Und setze hinzu: „Ich leide nicht an MS. Ich habe sie nur.“

      Meine Bekannte starrt mich erst verständnislos, dann entsetzt an. Wenn ich MS habe, müsse ich doch daran leiden, das dürfe ich doch nicht so einfach auf die leichte Schulter nehmen … Mein Neurologe sieht das zum Glück anders. Er erklärt mir sogar, dass Patienten mit meiner Einstellung größere Chancen auf einen milden Verlauf der Krankheit haben. Einfach deshalb, weil sie sich nicht selbst verrückt machen.

      Zwei Zugeständnisse mache ich der MS aber doch: Ich reduziere meine Arbeitszeit auf eine Dreiviertel-Stelle und sage eine geplante Dienstreise nach Äthiopien ab. Die für Februar geplante Urlaubsreise nach Rom treten Martin und ich aber an. Sie wird zum Beweis dafür, dass ich immer noch die alte Sabine bin. Sechs Tage lang durchstreifen wir die Überbleibsel der antiken Weltstadt, steigen hinauf auf den Palatin und hinunter in die Katakomben. Nur zum Mittagessen legen wir eine kurze Pause ein; ansonsten gibt es viel zu viel Faszinierendes zu entdecken. Irgendwann stehen wir unten an der Spanischen Treppe. Ich inspiziere sie mit einem skeptischen Blick. Hoch ist sie, und steil. Viel zu steil gebaut für eine bequem begehbare Treppe. Kann ich mir das wirklich zutrauen? Ich will es wenigstens versuchen. Also kommandiere ich: „Auf die Plätze – fertig – los“, und dann rennen Martin und ich los, die viel zu hohen Stufen hinauf. Martin ist schneller oben als ich, aber auch ich schaffe es ohne Pause bis ganz nach oben. Es geht also noch, oder besser gesagt: wieder.

      Trotzdem ist es gut, dass ich die Dienstreise im Juni nicht antrete. Denn wie sich kurze Zeit später herausstellt, bin ich da bereits schwanger.

      Mein Leben, unser Leben geht weiter. Ich habe einen Mann, einen Beruf, demnächst ein Kind. Und eben irgendwo weit hinten in meinen Gedanken ein M und ein S mehr als andere Menschen.

      Briefe an Jacob

       10. November 1994

      Lieber Jacob,

      seit drei Tagen wissen wir nun, dass du ein Junge bist. So können wir dich schon mit deinem Namen anreden.

      Allerdings wissen wir seitdem auch, dass mit dir nicht alles so ist wie bei anderen Babys. Du hast zu viel Nervenwasser im Kopf; das kann deinem kleinen, empfindlichen Gehirn Schaden zufügen. Woher dieser „Wasserkopf“ kommt, wissen wir noch nicht.

      Um das genauer zu untersuchen, haben die Ärzte ein klein wenig Blut aus deiner Nabelschnur geholt. Das ist nicht ganz ungefährlich, aber du hast es wohl gut überstanden. Da hat Jesus schon mal gut auf dich aufgepasst.

      An deinem Blut können die Ärzte unter anderem erkennen, ob du eine ganz seltene Krankheit hast, mit der du deine Geburt nur um wenige Stunden überleben würdest. Sie haben uns vorgeschlagen, in diesem Fall eine Ausschabung zu machen, um mir die Anstrengungen einer normalen Geburt zu ersparen. Aber dein Papa und ich waren uns sofort einig: Das werden wir nicht zulassen.

      Denn wir haben dein Leben in meinem Bauch nicht selbst gemacht, das hat dir Gott geschenkt. Deshalb, finden wir, haben wir auch kein Recht, über dein Leben zu entscheiden. Wenn du kurz nach deiner Geburt sterben solltest – dann soll auch das alleine Gottes Angelegenheit sein. Wir werden uns jedenfalls nicht daran beteiligen. Das versprechen wir dir hiermit.

      Aber wie gesagt, diese eine so schlimme Krankheit ist sehr, sehr selten. Viel häufiger hat ein Wasserkopf ganz andere Gründe. Wir haben also alle drei genug Grund für die Hoffnung, dass du leben und groß werden wirst.

      Allerdings war es ein seltsames Gefühl, deine künftigen Kinderzimmermöbel auszusuchen. Denn im schlimmsten Fall wirst du sie niemals benutzen. Wir haben sie trotzdem bestellt. Das mussten wir jetzt schon machen, damit sie rechtzeitig zu deiner Geburt da sind.

      Dein schönstes Möbelstück steht schon in unserem Schlafzimmer: Eine Wiege, die dein Opa selbst gezimmert hat. Die Oma hat die Bezüge und die Bettwäsche dazu genäht. Deine andere Oma näht noch an einem Wandteppich, mit dem du später die Geschichte von Noahs Arche nachspielen kannst. Du siehst also, es freuen sich eine ganze Menge Menschen sehr auf dich.

      Deine Mama

       10. Dezember 1994

      Lieber Jacob,

      es gibt gute Nachrichten für uns alle: Die eine schlimme Krankheit, nach der die Ärzte gesucht haben, hast du nicht. Du wirst also leben. Das ist doch eigentlich die beste Nachricht, die es geben kann, nicht wahr?

      Woher

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