Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte. Wolfram Hanel
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Keine Chance, denkt Appaz. Ich weiß nicht, wieso ich nicht trotzdem gehe, sie kann mir gar nichts, ich bin schneller draußen, als sie gucken kann. Aber sie hat irgendwas, was mich hier festhält. Und es ist lange her, dass mich jemand zum Kaffee eingeladen hat. Oder so. Egal. Auf zehn Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Auf dem Weg zum Fahrstuhl rutscht dem Mann einer seiner Pantoffeln vom Fuß. Appaz schiebt ihn in das Netz, das von der Rückenlehne des Rollstuhls baumelt.
Die Ärztin spricht jetzt leise mit dem Alten, der angestrengt darüber nachzudenken scheint, wieso einer seiner Füße des Filzpantoffels beraubt ist. Als der Fahrstuhl anruckt, drückt sie beruhigend seine Hand.
Es scheint keine Frage zu sein, dass Appaz mit ins Behandlungszimmer kommt. Diesmal ist er es, der dem Mann gut zuredet, während die Ärztin dessen Ärmel hochstreift, um ihm irgendeine Spritze zu setzen.
»Er hat vorhin erzählt, dass er Streit mit seiner Frau gehabt hat«, berichtet Appaz in dem unklaren Versuch, sich nützlich zu machen. »Es scheint so, als hätte sie ihm das Beil …«Er macht eine hilflose Geste in Richtung des Altmännerschädels.
Die Ärztin nickt. Behutsam tastet sie mit den Fingern das Umfeld der Klinge ab. Als sie die Aufschrift auf dem Stiel des Beils sieht, verdreht sie die Augen. Dann rollt sie den Mann zum Röntgenzimmer.
Appaz wartet auf dem Gang. Und als die beiden zurückkommen, tappt er wie selbstverständlich hinter ihnen her, wieder in den Behandlungsraum.
Die Ärztin wirft einen Blick auf die Röntgenbilder. »Es scheint tatsächlich nur oberflächlich zu sein«, sagt sie mehr zu sich selber als zu Appaz. »Die Klinge ist im Knochen steckengeblieben. Soweit ich sehen kann, ist das Gehirn nicht verletzt. Obwohl er eigentlich komatös sein müsste, aber …«
Sie stellt sich vor den Alten und holt tief Luft. Dann zieht sie mit einem kurzen Ruck das Beil aus dem Schädel des Mannes. Der Alte zeigt kaum mehr Reaktion als ein unwillkürliches Zucken mit dem Hals.
Appaz guckt schnell woandershin und klammert sich an die knochigen Schultern unter dem feuchten Jackett, bis der Schwindelanfall vorbei ist.
»Er hat Glück gehabt«, sagt die Ärztin, als sie das Beil auf einen Tisch legt.
»Und … das war’s schon?«, fragt Appaz und merkt, wie seine Stimme zittert.
Ohne eine Antwort zu geben, beginnt die Ärztin, die Wunde zu vernähen. Appaz bewundert sie im Stillen. Das ist cool, denkt er, echt cool. Sollte ich mal ein Beil im Kopf stecken haben, möchte ich auch, dass sie es mir rauszieht. Ich sollte sie vielleicht nach ihrem Namen fragen.
Plötzlich ist ein Zivi da. Seine Augen flackern unsicher in einem Gesicht, das nach Schlaf schreit. Entweder ist er noch nicht lange dabei, denkt Appaz, oder er hat sich die halbe Nacht mit Gras zugedröhnt. Die Wolke, die den Zivi umgibt, lässt eher Letzteres vermuten.
Als die beiden anfangen, dem alten Mann die nassen Klamotten auszuziehen, geht Appaz wieder auf den Gang hinaus. Er überlegt, ob er die Gelegenheit nutzen und einfach verschwinden soll. Aber er will die Ärztin ja noch nach ihrem Namen fragen.
Nach einer Weile kommt der Zivi mit dem Bett. Appaz greift nach der Hand des Alten, die kraftlos über den Rand hängt, und legt sie ihm vorsichtig auf den Bauch.
»Also dann«, sagt er und nickt der Ärztin zu. »War nett, Sie kennengelernt zu haben.« Er wartet, bis der Zivi um die Ecke ist. »Ach ja, ich wollte noch fragen …«
»Gehen wir ins Arztzimmer«, unterbricht ihn die Ärztin. »Ich habe Ihnen ja einen Kaffee versprochen. Und den Papierkram müssen wir auch noch erledigen.«
Appaz folgt ihr. Unter der blauen Baumwollhose zeichnet sich deutlich ihr Slip ab. Auf der Rückseite des Kittelhemdes sind ein paar verwaschene Blutflecken.
Dann sitzen sie sich gegenüber an einem Schreibtisch, dessen Platte nahezu vollständig von irgendwelchen Papieren und einem Wirrwarr aus Arzneimittelpackungen, Rezeptblöcken und Werbekugelschreibern verschiedener Pharmafirmen bedeckt ist. Es regnet inzwischen stärker. Die Regentropfen lassen den Blick durch die Scheibe nach draußen verschwimmen und trommeln eintönig auf das Fensterbrett.
Die Ärztin dreht abwesend ihren Kaffeebecher zwischen den Händen. Appaz verbrennt sich gleich mit dem ersten Schluck die Zunge, lässt sich aber nichts anmerken, sondern zieht sich nur die Jacke auf und streckt die Beine aus. Der Schirm der Schreibtischlampe ist gegen die Wand gedreht. Eine Kinderzeichnung hinter Glas zeigt ein Mädchen im Krankenbett; die Sternschnuppe, die am oberen Bildrand für immer festhängt, ist leuchtend gelb.
Appaz würde gerne rauchen. Er räuspert sich.
»Das ist mir auch noch nicht passiert«, sagt die Ärztin im selben Moment. »Aber neulich hatte ich zwei junge Männer, beide Fixer, beide schwul. Der Eine hatte dem Anderen ein Messer in den Hals gerammt, irgendeine Eifersuchtsgeschichte. Aber dann hat er Angst gekriegt, dass er ihn umgebracht hat, und ist mit ihm hierhergekommen. Mit einem blutdurchtränkten Küchenhandtuch auf der Wunde.«
»Und?«
»Zum Glück hatte er nicht die Ader getroffen.«
Sie lacht. Dann beugt sie sich vor und streckt Appaz die Hand hin.
»Darleen.«
Für einen kurzen Augenblick ist er irritiert. Aber Darleen klingt nicht nach einem Nachnamen.
»Kurt«, sagt er also und schüttelt die ausgestreckte Hand. Nur um seine eigene gleich darauf zurückzuziehen und hektisch in der Innentasche seiner Lederjacke nach einer Autogrammkarte zu suchen.
»Auf der Rückseite steht meine Homepage«, sagt er. »Und E-mail und alles.«
Die Ärztin blickt auf das Foto und zurück zu Appaz.
»Sie sind das also. Ich kenne einen Roman von Ihnen. Hat Spaß gemacht, ihn zu lesen. Aber dass ich jetzt hier plötzlich mit Ihnen sitze, hätte ich nie gedacht!«
»Mit dir«, korrigiert Appaz. »Darleen und Kurt. Du hast damit angefangen, nicht ich.«
»Kurt«, wiederholt die Ärztin lachend. »Gut. Gerne.«
Appaz überlegt, ob er fragen soll, welchen Roman sie gelesen hat. Aber die Frage erscheint ihm plötzlich zu heikel. Er will es gar nicht so genau wissen, vielleicht würde sie etwas sagen, was ihm nicht gefällt. Lass es langsam angehen, denkt er, ich weiß ohnehin gar nicht, was das hier werden soll…
Mit sicherem Griff fischt die Ärztin jetzt eine Zigarettenschachtel aus dem Chaos auf ihrem Schreibtisch. Der Aschenbecher ist in der obersten Schublade versteckt und müsste dringend geleert werden.
Sie hält Appaz die Schachtel hin.
»Ich dachte, Ärzte rauchen nicht«, sagt Appaz.
»Ärzte trinken auch zu viel, die meisten jedenfalls.«
Appaz nickt. »Schriftsteller auch. Fallada soll angeblich 140 Zigaretten am Tag geraucht haben. Und Jack London hat nur deshalb morgens um vier schon zu schreiben angefangen, weil er unbedingt tausend Worte geschafft haben wollte, bevor er sich den ersten Whiskey genehmigte, so gegen acht dann.«
Du redest Blödsinn, denkt