Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte. Wolfram Hanel
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Kerschkamp war es auch, der aus der sicheren Höhe des Garagendachs einer Nachbarin von Appaz’ Eltern zurief: »Du hast doch ’ne Macke, Alte!«, eine weitere Heldentat, für die Appaz seinen Freund einen Moment lang aufrichtig bewunderte. Bis Kerschkamp bei der anschließenden Flucht vom Garagendach sein Glasauge verlor, von dessen Existenz Appaz bis dahin nichts geahnt hatte, wenn ihm auch Kerschkamps Blick manchmal merkwürdig starr vorgekommen war.
Das Glasauge war und blieb verschwunden, egal wie lange sie in dem Dreck hinter der Garagenmauer danach suchten, und Kerschkamp musste mit leerer Augenhöhle nach Hause. Am nächsten Tag kam er nicht zur Schule, aber nachmittags traf Appaz ihn vor dem A&O-Laden, da kam Kerschkamp gerade vom Arzt und präsentierte stolz ein neues Glasauge, das allerdings blau statt braun war. »Braun hatten sie gerade nicht«, erklärte Kerschkamp, und Appaz versuchte, Kerschkamp nicht allzu auffällig anzustarren, er sagte nur irgendetwas wie »Ist ja nicht so schlimm, merkt man kaum.«
Kurz darauf war das Schuljahr zu Ende, und die Klassenlehrerin gab bekannt, wer nach dem Sommer auf eine weiterführende Schule kommen würde. Kerschkamp war nicht dabei, obwohl sein Zeugnis nicht schlecht war und er in Rechnen sogar eine Eins bekommen hatte. Aber sein Vater, der bei VW im Transporter-Werk in Stöcken am Band arbeitete, fand, dass es vollkommen ausreichend war, wenn Kerschkamp die Volksschule abschloss, um dann eine Lehre bei VW anzufangen.
Appaz würde aufs Gottfried-Wilhelm-Gymnasium gehen, ein »mathematisch-naturwissenschaftliches und neusprachliches Gymnasium für Knaben«, wie es auf dem Anmeldeformular stand, das Appaz’ Mutter bereits stolz ausgefüllt hatte.
Karin und Trixi waren auf dem benachbarten Mädchen-Gymnasium angemeldet. Appaz wäre wenigstens gerne mit ihnen zusammengeblieben, wenn er schon auf Kerschkamp verzichten musste. Aber dann kam doch alles ganz anders, die Klassenlehrerin hatte es irgendwie noch geschafft, Kerschkamps Vater davon zu überzeugen, dass er seinem Sohn wenigstens die Chance geben sollte, es auf dem Gymnasium zu versuchen. Und Kerschkamps Vater hatte nach langen Hin und Her tatsächlich zugestimmt. Allerdings war es jetzt Kerschkamp, dem nicht ganz geheuer dabei war und der eindeutig Angst vor dem Gymnasium hatte, auch wenn Appaz ihm immer wieder sagte, dass es bestimmt gut werden würde. Was er aber vor allem tat, um sich selber Mut zu machen.
Aber erst mal waren ohnehin noch Sommerferien, und das größte Abenteuer dieses Sommers war ohne Frage der goldfarbene Mercedes 600 Pullmann, der eines Tages bei einem Bauern gegenüber von ihrer alten Schule auf dem Hof stand und den Appaz und Kerschkamp wiederholt ehrfürchtig bestaunten. Es hieß, dass der Bauer seine sumpfigen Wiesen, die nicht mal als Kuhweiden taugten, an die Stadt verkauft hatte, die dort ein Krankenhaus bauen wollte - und über Nacht zum Millionär geworden war. Aus Kerschkamps Autoquartett wussten sie, dass der Pullmann 250 PS hatte, 6,24 Meter lang war und 28 Liter Super schluckte, alles Werte, mit denen kein anderes Auto mithalten konnte. Nur bei den jährlichen Produktionszahlen von »ca. 30 Stück« konnte man ihn ohne Mühe stechen, der Käfer war da mit einer Million der absolute Spitzenreiter.
Appaz’ Vater besaß einen Käfer »Standard«, noch älter als der »Export« in Kerschkamps Autoquartett, grau und ohne eine einzige Chromleiste, und mit einem ovalen Rückfenster, aus dem Appaz bei der jährlichen Urlaubsfahrt in die Berge oder ans Meer den nachfolgenden Verkehr beobachtete. Appaz und Kerschkamp rechneten sich aus, wie viele Käfer man für die 63 500 Mark, die der Pullmann kostete, kriegen würde. Oder wie viele Motorroller von Heinkel. Kerschkamps Vater hatte einen solchen Heinkel-Roller, schneeweiß, mit zwei zusätzlichen verchromten Scheinwerfern an der Lenkstange. Einmal, als er noch klein genug war, um zwischen seine Eltern auf den Sitz zu passen, waren sie damit sogar bis zum Gardasee nach Italien gefahren, hatte Kerschkamp erzählt.
Zwei Tage vor Ferienende fuhr Appaz’ Mutter mit Appaz zum Gottfried-Wilhelm-Gymnasium, damit er sich mit dem Schulweg vertraut machen konnte, den er demnächst täglich würde zurücklegen müssen. Am Klingerplatz über die Ampelkreuzung, mit der Linie 7 oder 3 in Richtung Stadt, bis zur Haltestelle Hammersteinstraße. Die Sammelkarten für Schüler kosteten dreißig Pfennig, waren gelb und wurden von einem Schaffner oder vom Fahrer selbst abgestempelt, die Straßenbahn war beige mit dunkelrot abgesetzten Kanten, die geteilte Frontscheibe schon nicht mehr senkrecht, sondern aerodynamisch nach hinten geneigt. Wenn Leute einstiegen, die älter als man selber waren, hatte man grundsätzlich aufzustehen, das wusste Appaz bereits von den Einkaufsfahrten in die Innenstadt.
Manchmal waren auf der Linie 7 auch noch die alten Wagen mit den beidseitigen Holzbänken eingesetzt, bei denen der Schaffner mit einem kurzen Ruck an der Zugleine über den Sitzreihen das Klingelsignal zum Anhalten oder Weiterfahren gab. Appaz gefiel vor allem das rote »Zugluft-Schild« an der Schiebetür am Gangende: »Bitte vordere Wagentür nicht während der Fahrt öffnen«, die einzelnen Buchstaben des Wortes »Zugluft« waren jeweils nach links mit ausfransenden Pinselstrichen versehen, als könnten sie sich nur mit Mühe im Wind halten. Auf einem Emailleschild unter dem Fenster stand: »Bitte nicht in den Wagen spucken!«
Appaz fand es peinlich, dass seine Mutter, kaum dass sie auf ihren Plätzen saßen, einem wildfremden Mann erzählte, dass sie zum Gottfried-Wilhelm-Gymnasium fuhren, wo Appaz in Kürze in die 5. Klasse käme. Der Mann nickte freundlich in Appaz’ Richtung, bevor er sich zu Appaz’ Mutter beugte und ihr vertraulich - aber für Appaz deutlich hörbar - zuflüsterte, er sei mit seinem Sohn auf dem Weg zum Arzt. Er zeigte auf den jungen Mann neben sich, der so tat, als würde er nicht dazugehören. Er war vielleicht Anfang zwanzig, hatte blonde Haare, die ihm bis über die Augen fielen, und eine auffällig karierte Hose an. Und er veränderte immer wieder seine Sitzhaltung, als hätte er Schmerzen.
»Hodenbruch«, erklärte sein Vater.
»Oje«, sagte Appaz’ Mutter mitfühlend.
Appaz war froh, dass er an der nächsten Haltestelle aufstehen konnte, um einer älteren Frau seinen Platz anzubieten. Er hatte keine Ahnung, was genau ein Hodenbruch war, geschweige denn, wie man einen bekam.
Das Gottfried-Wilhelm-Gymnasium war in der Röntgenstraße, Appaz’ Mutter erklärte ihm, ein Wilhelm Conrad Röntgen habe 1895 die nach ihm benannten Strahlen entdeckt und dafür den Nobelpreis für Physik erhalten - falls man Appaz in der Schule danach fragen sollte. Für Appaz waren die Röntgenstrahlen ungefähr so schwer vorstellbar wie Hodenbrüche.
Gottfried Wilhelm war ein Philosoph gewesen, darüber hatten sie schon zu Hause gesprochen, und der blonde Typ mit der karierten Hose studierte Philosophie, wie sein Vater Appaz’ Mutter erzählt haben musste, während Appaz noch über die Sache mit dem Hodenbruch grübelte. Vielleicht würde Appaz ja später auch mal Philosophie studieren, meinte seine Mutter und legte ihm aufmunternd den Arm um die Schultern, bevor sie am Eingang zum Gymnasium wieder kehrtmachten und in einem kleinen Café mit vom Zigarettenqualm vergilbten Gardinen jeder ein Stück Käsekuchen aßen, der Appaz aber nicht so gut schmeckte wie der, den seine Mutter selber backte.
Auf dem Weg zurück zur Straßenbahn roch es nach frischem Spekulatius, zwei Straßen weiter war die Bahlsen-Keksfabrik. Eine Nachbarin arbeitete bei Bahlsen, sie hatte eine Einkaufskarte, mit der man für wenige Pfennige bei der Produktion beschädigte