Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte. Wolfram Hanel
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Am Abend vor seinem ersten Schultag auf dem Gottfried-Wilhelm-Gymnasium klagte Appaz über Bauchweh, bis seine Mutter sich zu ihm setzte und ihm ein Kapitel aus Marie Hamsuns »Die Langerud-Kinder« vorlas. Die Geschichte spielte in Norwegen, wo Appaz’ Vater im Krieg gewesen war. Appaz’ Mutter erzählte, dass die Bauernhäuser in Norwegen in der gleichen dunkelroten Farbe gestrichen waren, die auch sein Vater für die Laube in ihrem Schrebergarten ausgewählt hatte. Appaz stellte sich vor, wie er und Kerschkamp mit Einar und Ola am Fluss hinter der dunkelroten Scheune spielten und zusammen die große Birke aus dem Wasser fischten, um genug Feuerholz für den Winter zu haben. Und er und Kerschkamp waren es dann auch, die Einar mutig vor dem Ertrinken retteten, während Ola nur dastand und vor Angst die Hosen voll hatte. Appaz fand Ola ziemlich blöd.
Am nächsten Morgen war Appaz fast schlecht vor Aufregung. Nur mit Mühe schaffte er es, seinen üblichen Brei aus Haferflocken und heißer Milch - mit einer in dicke Scheiben geschnittenen Banane - wenigstens zur Hälfte zu essen, dann half ihm seine Mutter in die Träger des neuen Schulranzens und brachte ihn bis zur Haltestelle. Kerschkamp stand schon da und hob kläglich grinsend die Hand, als er Appaz kommen sah. Er trug jetzt eine Brille mit schwarzem Gestell, hinter deren getönten Gläsern das Glasauge kaum noch als solches zu erkennen war.
Auf der Fahrt blieben sie dicht nebeneinander im Gang stehen, obwohl genug Sitzplätze frei waren. Eine Frau schimpfte über ihre Schulranzen, die den Weg versperren würden. An der Haltestelle des Mädchen-Gymnasiums sahen sie Karin und Trixi, die aus dem hinteren Wagen stiegen und kichernd Hand in Hand zum Zebrastreifen liefen.
»Die haben es gut«, sagte Kerschkamp unvermittelt. »Mädchen-Gymnasium ist bestimmt einfacher als bei uns.«
Appaz nickte.
Auf dem Weg zur Röntgenstraße überlegte er, wer von den anderen Schülern, die mit ihnen unterwegs waren, wohl in ihrer Klasse sein würde. Er war froh, dass Kerschkamp bei ihm war. Kerschkamp war so groß, dass man sie ganz bestimmt in Ruhe lassen würde, trotz der Brille, die mit Sicherheit Anlass zu hämischen Kommentaren geben würde. Dieser Gedanke musste auch Kerschkamp schon gekommen sein, kurz vor der Schule hielt er Appaz am Arm fest und erklärte: »Wenn einer was wegen meiner Brille sagt, haue ich ihm einfach eine. Der Brillenträger hat immer den ersten Schlag, das weißt du ja.«
In der Pausenhalle wurden sie von einem Mann mit einer schwarzen Hornbrille in Empfang genommen, die Kerschkamps Brille zum Verwechseln ähnlich sah. Sie mussten sich in Zweierreihen aufstellen, ein paar der älteren Schüler, die vorbeikamen, lachten sie aus und riefen: »Fünfte Klasse, Nuckelflasche!«
Von weitem sah Appaz eine Gruppe Oberstufenschüler, die Haare bis auf den Hemdkragen hatten. Einer trug eine Hose, die aussah wie eine vollgekleckste Malerhose, als Schultasche hatte er einen Lederbeutel mit langen Fransen über der Schulter.
»Hippies«, sagte Kerschkamp. Seine Stimme klang verächtlich.
Appaz wusste, dass Hippies so etwas waren wie die Gammler. Sein Vater hatte von den Gammlern erzählt, die auf dem Georgsplatz, wo er und seine Kollegen im Sommer ihre Mittagspausen verbrachten, die Bänke blockiert und für allgemeinen Unmut gesorgt hatten. Mehrmals waren sogar Angestellte der Stadt dagewesen und hatten den gesamten Platz mit scharf riechenden Desinfektionsmitteln eingesprüht, aber kaum waren die Bänke abgetrocknet, waren auch die Gammler zurückgekehrt. »Gammler lassen sich trotz Säuberungsaktion nicht vertreiben«, hatte in der Zeitung gestanden, und Bundeskanzler Ludwig Erhard hatte versprochen »Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören«. Appaz’ Mutter hatte erzählt, wie schnell man sich irgendwo »Läuse holen« konnte. Allein die Vorstellung, dass ihr Mann womöglich seinen Mittagskaffee auf einer zuvor von Gammlern besetzten Bank getrunken hatte, schien bei ihr nachhaltiges Entsetzen hervorzurufen.
»Guck mal«, sagte Kerschkamp plötzlich und rammte Appaz seinen Ellbogen in die Seite. Er zeigte auf ein Schwarzweiß-Foto, das als Vergrößerung an der Wand neben ihnen hing. Auf dem Foto war das Kollegium des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums abgebildet, eine Gruppe von älteren Herren in dunklen Anzügen, die, auf der Treppe vor dem Schulgebäude aufgereiht, starr und ohne ein Lächeln in die Kamera blickten, als müssten sie irgendeiner unklaren Bedrohung standhalten. Ganz vorne erkannte Appaz den Mann mit der schwarzen Hornbrille, offensichtlich der Schulleiter, links und rechts von ihm standen die beiden einzigen Frauen des Kollegiums, beide in grauen Kostümen mit weit über die Knie reichenden Röcken und nahezu identisch ondulierten Haaren.
Der Schulleiter hieß Dr. Siegfried, wie Appaz auf der Namensliste sah.
Hinter Dr. Siegfried her marschierten sie jetzt in die Aula und verteilten sich auf die Stuhlreihen, ihre Schulranzen stellten sie zwischen ihre Beine. Kerschkamp schwitzte stark, rechts von Appaz setzte sich ein Junge hin, dessen Fingernägel bis aufs Blut abgekaut waren.
Dr. Siegfried betrat das Podium, auf dem ein Rednerpult stand, links vor den Fenstern versammelte sich die Gruppe der Klassenlehrer, die sie bekommen würden. Auch eine der beiden Frauen war dabei und ein kleiner, dicker Lehrer, der über seinem Anzug einen weißen, bis zum Hals durchgeknöpften Kittel trug. Genau vor dem Bauch fehlte ein Knopf, und der Kittel klaffte weit auseinander.
Der Junge neben Appaz kicherte und schob seine Finger in den Mund.
Dr. Siegfried begrüßte sie. Sie seien jetzt auf einer Schule mit einer langen Tradition, er könne nur hoffen, dass sie dem Namen Gottfried Wilhelm alle Ehre machen würden, es läge jetzt an jedem Einzelnen von ihnen, was er mit den ihm gebotenen Chancen anfing. Und: Die Schüler des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums hätten es nicht nötig, arrogant zu sein, sie seien »privilegiert« allein durch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der »Gottfried-Wilhelmer«, das sei gerade in Zeiten wie diesen wichtiger denn je, »wenn humanistische Werte und Bildungsideale plötzlich nichts mehr gelten sollen …«
»Was?«, fragte Kerschkamp laut, wurde aber sofort von der Lehrerin niedergezischt und suchte mit rotem Kopf Deckung hinter den Schultern seines Vordermannes.
Dr. Siegfried verlas nun eine Liste mit Namen, nach der sie in die einzelnen Klassen aufgeteilt wurden. Appaz und Kerschkamp kamen beide in die 5d, der Klassenlehrer war der Dicke mit dem weißen Kittel, er hieß Löffler. Oberstudienrat Löffler.
Auch Buchmann kam in ihre Klasse. Buchmann wohnte zwei Eingänge neben Appaz, sein Vater arbeitete in der gleichen Versicherung wie Appaz’ Vater. Sie waren auch im gleichen Kegelverein, der sich jeden Freitagabend im »Gasthaus zur Eiche« in der Silberstraße zusammenfand. Buchmann hatte Appaz mal im Winter mit einer Wäscheleine an einen Laternenpfahl gebunden und mit Schneebällen beworfen. Und Appaz hatte sich gerächt, indem er ihm - Wochen später - aufgelauert und ihn dann von hinten vom Fahrrad gestoßen und seinen Kopf in eine Pfütze gedrückt hatte, bevor er schnell weggelaufen war.
Jetzt nickte Buchmann ihm mit einem unsicheren Lächeln zu.
Appaz nickte zurück.
»Per aspera ad astra«, schloss Dr. Siegfried seine Begrüßung, »durch Mühen zu den Sternen, denkt immer daran, dass ihr hier für euer späteres Leben lernt, ich wünsche euch viel Erfolg für die vor euch liegende Schulzeit.«
Er schob seine Zettel zusammen. Im gleichen Augenblick meldete sich der Junge rechts neben Appaz, seine Hand mit den blutigen Fingerkuppen streckte sich zitternd nach oben und blieb auf halber Höhe unentschlossen hängen.
Dr. Siegfried guckte irritiert und erteilte mit einem Nicken die Erlaubnis zum Sprechen.
»Ich