Euroskeptizismus auf dem Vormarsch. Julian Wessendorf
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Einen anderen Ansatz wählte der amerikanische Soziologe Seymour M. Lipset. Er erklärte, dass sich der Extremismus nicht nur auf Grundlage der Sitzordnung in nationalen Parlamenten zeigen lässt, sondern auch anhand der unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Demnach ergänzte er das bekannte Rechts-Links-Spektrum um den Faktor ‚Mitte‘ und stellte die These auf, der Linksextremismus käme aus der Unterschicht, der Faschismus aus der Mittelschicht und der Rechtsextremismus aus der Oberschicht (Lipset 1972: 449). Seine Argumentation stützt Lipset (1972: 458f.) in erster Linie auf den Aufstieg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), die ihre Wählerschaft vor allem aus den zusammenbrechenden Parteien der Mitte gewann, was im Endeffekt zum Ende der Weimarer Republik führte und den Aufstieg Hitlers ermöglichte. Die These, dass die NSDAP ihren Aufstieg dem Mittelstand verdankte, wurde bereits gegen Ende der Weimarer Republik von verschiedenen Soziologen vertreten. Ein Beispiel hierfür ist Theodor Geiger, der in seinem 1930 erschienenen Aufsatz „Panik im Mittelstand“ auf die Anfälligkeit des Mittelstandes für die nationalsozialistischen Ideologien und die Propaganda der NSDAP eingeht (vgl. Geiger 1930). Da sich dieser Ansatz jedoch eher auf aktuelle politische Entwicklungen bezieht und lediglich temporäre WählerInnenfluktuationen betrachtet und sich daher weniger mit tatsächlichen Ideologien auseinandersetzt, ist die Theorie des ‚Extremismus der Mitte‘ zumindest zur Klärung und Eingrenzung des Extremismusbegriffs auf politikwissenschaftlicher Ebene ungeeignet. Im Zusammenhang mit populistischen Strategien zum Stimmengewinn kann dieser Ansatz jedoch ohne Weiteres zu Rate gezogen werden. Hierauf wird an einem späteren Punkt in diesem Kapitel nochmals näher eingegangen.
Erst mit dem Anstieg des Rechtsextremismus in den 1980er Jahren, dem wachsenden Zulauf für neonationalsozialistische Gruppen und der Übernahme rechtsextremistischer Ansichten durch die Subkultur-Szene der Skinheads – die oftmals fälschlicherweise als Neonazis verallgemeinert werden, grundsätzlich aber eine sehr heterogene Gruppierung darstellen (vgl. Brown 2004: 157f.) – wurde der Extremismus in Deutschland vermehrt verfolgt (vgl. Pfahl-Traughber 1993: 11). Zu Beginn geschah dies jedoch vornehmlich ohne diese Entwicklung kritisch zu hinterfragen. Stattdessen bezeichnete man bspw. rechtsextremes Wahlverhalten als „unpolitisches Protestvotum“ (ebd. 12). Auch auf gesamteuropäischer Ebene wurde der Rechtsextremismus lange Zeit nicht wissenschaftlich untersucht und in der breiten Masse wenig beachtet. Erst mit dem Einzug rechtsextremer Parteien in das Europäische Parlament 1984 und der Bildung der Technischen Fraktion der Europäischen Rechten wurde in der EU ein Untersuchungsausschuss zum ‚Wiederaufleben des Faschismus und Rassismus in Europa‘ gegründet, welcher u. a. 1986 die gemeinsame ‚Erklärung gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit‘ des Europäischen Parlamentes, des Rates, der im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten und der Kommission hervorbrachte (vgl. Greß 1994: 186). In der gemeinsamen Erklärung weisen die Unterzeichner bspw. „auf die Bedeutung einer angemessenen Unterrichtung und einer Sensibilisierung aller Bürger angesichts der Gefahren des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit hin“ (EG 1986: 1).
Eine erste Arbeitsdefinition für Rechtsextremismus7, die lange Zeit als „common sense und unbestritten“ (Dudek & Jaschke 1984: 22) angesehen wurde, lieferte 1981 Wolfgang Gessenharter. In dieser definierte er Personen, Organisationen und Gruppen als rechtsextrem,
„die autoritäres, antipluralistisches, antiparlamentarisches, zivilisationskritisches und nationalistisches (bes. fremdgruppenvorurteilsbehaftetes) Gedankengut vertreten und bei denen zu dieser ‚pol. Philosophie‘ noch ein rigides, auf Entweder-Oder-Dichotomien fixiertes Gedankenschema hinzutritt“. (Gessenharter 1981: 399, Hervorheb. im Original)
Dudek und Jaschke (1984: 22) kritisieren an dieser Definition jedoch, dass sie lediglich einen idealtypischen Charakter besitzt, man jedoch feststellen würde, dass vor allem auf der Ebene der Personen oder Organisationen, die als rechtsextrem eingestuft werden, vereinzelte oder mehrere Aspekte nicht zuträfen. Eine heute weitverbreitete Definition für politischen Extremismus stammt von den Politikwissenschaftlern Uwe Backes und Eckhard Jesse. Backes und Jesse (1989: 33) definieren den politischen Extremismus „als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen […], die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen“. Hierbei grenzen sie den Rechtsextremismus als Negierung der menschlichen Fundamentalgleichheit vom Linksextremismus im Sinne des Kommunismus und Anarchismus ab (ebd.).
Die Definition des politischen Extremismus als „Antithese konstitutioneller Demokratie“ (Backes & Jesse 1989: 33; vgl. auch Jesse 2018: 34), wie sie in der normativen Extremismusforschung gängig ist, kann jedoch durchaus kritisch gesehen werden, da der Extremismus zum einen ex negativo definiert wird und somit lediglich eine Erklärung dafür liefert, was der Extremismus nicht ist, nämlich die Befürwortung eines demokratischen Verfassungsstaates (vgl. hierzu auch Pfahl-Traughber 2008: 14). Somit wäre für ein besseres Verständnis des Extremismusbegriffs zunächst einmal zu klären, wie sich der demokratische Verfassungsstaat definiert, um daraus die entsprechende Definition für Extremismus abzuleiten. Backes (1989: 103) bemerkt selbst, dass diese Negativdefinition den Extremismus als vom demokratischen Verfassungsstaat abhängiges Sekundärphänomen beschreibt und erklärt, dass das „breite Spektrum der Extremismen strukturell unbestimmt“ bleibt. Zum anderen ist eine Definition des Extremismus als grundsätzlich antidemokratisch äußerst kritisch zu betrachten, da bspw. der linke Extremismus nicht zwangsläufig als antidemokratisch, sondern vielmehr als antikapitalistisch einzustufen ist (vgl. Neugebauer 2001: 22). Festzuhalten ist, dass die Demokratie-Extremismus-Dichotomie nicht vornehmlich auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse fußt, sondern sich vielmehr aus der Argumentation der Justiz und des Verfassungsschutzes ergibt (vgl. Jaschke 2000: 319; Brodkorb & Bruhn 2010: 148). Aus diesem Grund wurde in der wissenschaftlichen Literatur vermehrt empfohlen, den Begriff des Radikalismus für den wissenschaftlichen Diskurs zu verwenden, während der Extremismus für verfassungsschutzrechtliche Beobachtungen reserviert werden sollte. Dieser Ansatz konnte sich jedoch bislang nicht durchsetzen (vgl. Neugebauer 2001: 16).
Anstatt den (Rechts-)Extremismus ausschließlich auf seine antithetische Grundeinstellung zur Demokratie zu beschränken, wird er in den Sozialwissenschaften vor allem durch sein völkisch-nationalistisches und rassistisches Gedankengut definiert (vgl. Neugebauer 2001: 15; Stöss 2013: 578). Im Sinne der bereits erwähnten Ablehnung der menschlichen Fundamentalgleichheit, spielt die „natürliche Zugehörigkeit zu etwas (‚Nation‘, ‚Rasse‘, ‚Religion‘) als höchste[r] Wert“ (Pfahl-Traughber 1994a: 14f.) eine bedeutsame Rolle im Weltbild des Rechtsextremismus und ordnet diesem Wert alle anderen Werte, wie bspw. auch Menschen- und Bürgerrechte, unter. Damit einher geht auch die Überzeugung von einer natürlichen Ungleichheit der Menschen und einer damit verbundenen Abgrenzung und Abwertung der ‚Anderen‘ und der Ablehnung bestimmter Rechte für diese Gruppe von Menschen. Als weiteres Merkmal nennt Pfahl-Traughber (1994a: 15) den Autoritarismus und den Wunsch eines starken Staates oder einer Führerpersönlichkeit, die sich über die Gesellschaft stellt und diese dominiert. Letztlich spielt auch die Vorstellung einer gemeinsamen Volksidentität im Sinne einer Volksgemeinschaft, deren Interessen sich das Individuum und bestimmte Gruppen unterwerfen müssen, eine wichtige Rolle (ebd.). Dementsprechend sieht das Idealbild einer Gesellschaftsordnung im Rechtsextremismus einen totalitären oder autoritären Staat mit einer ethnisch und politisch homogenen Gesellschaft vor. Hierzu ergänzt Pfahl-Traughber (2008: 15), dass rechtsextreme Ideologien durchaus einen konservativen, nationalistischen, nationalrevolutionären oder völkisch geprägten Charakter haben können und sich nicht nur auf nationalsozialistische Vorstellungen beziehen müssen.
Dennoch wurde der Rechtsextremismusbegriff im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg zunächst hauptsächlich als Fortsetzung des Nationalsozialismus angesehen (vgl. Dudek 1994: 280f.). Dies gründete sich darauf, dass sich direkt im Anschluss an das Kriegsende Gruppierungen organisierten, die entweder die faschistischen Ideologien des Nationalsozialismus weiterverfolgten oder aber „getragen von vermeintlicher oder realer Einbuße an sozialer Position und politischem Einfluß“ (Greß 1994: 187) Interessenvertretungen