Der letzte Überlebende. Sam Pivnik
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der letzte Überlebende - Sam Pivnik страница 4
Aber die Juden wurden wohlhabend, und als sich im 19. Jahrhundert neue Wirtschaftszweige entwickelten, kamen auch Kohlebergbau und Metallverarbeitung dazu. Inzwischen gehörte Będzin zu Russland, die Welt hatte sich verändert. Historiker beschreiben Polen als politischen Spielball, der von größeren Ländern herumgeschoben wurde, so wie wir es mit unserem Lumpenfußball in den Gassen taten. Bei der russischen Volkszählung 1897 betrug der jüdische Bevölkerungsanteil in Będzin 51 Prozent. Im Jahr 1921, kurz vor meiner Geburt, waren es bereits 62 Prozent.
Auf dem Hügel unterhalb der Burg gab es schon seit dem 17. Jahrhundert eine Synagoge, aber das Gebäude, an das ich mich erinnere, wurde 1881 erbaut. Es gab noch eine zweite Synagoge, und zur Zeit meines Großvaters waren es mehr als achtzig Bethäuser. Ich wurde also in eine lebendige, wenn auch arme jüdische Gemeinde hineingeboren, und die große Synagoge, die in meinem Geburtsjahr neu aufgebaut worden war, war die einzige in Südpolen, die Juden entworfen und gestaltet hatten. Chaim Hanft war der Architekt – ich sehe heute noch die riesige Haupttür mit den funkelnden Messingbeschlägen vor mir. Von Mosze Apelboin stammt das riesige Fresko an der Ostwand, und Szmul Cygler gestaltete in seinem unnachahmlichen Stil die Westwand. Es handelte sich um Volkskunst, die Kunst jener Menschen, die Będzin zu ihrer Stadt gemacht hatten. Und die Bilder erzählten die Geschichte dieser Menschen. Ich erinnere mich an die Tiere, die in Zweierreihen in Noahs Arche wanderten. Der Schriftsteller Josef Harif beschreibt: Będzin war eine „typische jüdische Stadt mit typischen Juden. Tiefgläubige Juden, die ihren Glauben vom Zeitpunkt ihrer Geburt verinnerlicht hatten, und die ihre Yiddishkeit leben würden, bis der Messias kam.“
Doch selbst in dem Jahrzehnt, in dem ich geboren wurde, war Będzin eine Stadt der Gegensätze. In den Straßen waren die unterschiedlichsten Klänge zu hören, nicht nur der Geist des Rabbi-Gehilfen Abram Kaplan, dessen dröhnende Stimme durch die Gassen um die große Synagoge hallte: „Sha! Sha! – Ruhe! Ruhe!“ Der Dialekt in der Altstadt klang rau und kehlig, ähnlich wie das Deutsch, das in Wien gesprochen wird. In den neueren Vierteln am Fluss sprachen die Neuankömmlinge ein weicheres Polnisch, außerdem Jiddisch und Tschechisch. Będzin war eine Stadt des Wohlstandes – mächtige Geschäftsleute wie die Familie Fürstenberg beschäftigten Hunderte von Angestellten – und zugleich eine Stadt verzweifelter Armut. In dem Winter, als ich zwei Jahre alt geworden war, erfror eine Bettlerin, die man „Verrückte Sara“ nannte, in einer eisigen Nacht auf der Straße.
Die Nicht-Juden waren Katholiken, die ihre Kirche auf dem Hügel erbaut hatten, oder deutsche Schlesier. Sie erinnerten daran, dass Będzin in seiner Geschichte schon zu Preußen, dem russischen Zarenreich und dem Habsburgerreich gehört hatte. Zu Hause sprachen wir Jiddisch, Polnisch, Deutsch und sogar – obwohl es uns seltsam vorkam und wir eigentlich nichts verstanden – ein wenig Englisch. Mein Vater hatte einiges davon in London aufgeschnappt.
Heute braucht man einen Internetzugang, um die Orte zu sehen, an die ich mich erinnere. Die Burgruine ist noch da. Ich erinnere mich an den alten Marktplatz mit den Kühen, Pferden, Hühnern und bunten Ständen. Als ich vier war, wurde der Bahnhof aus dem 19. Jahrhundert niedergerissen und ein neuer gebaut, mit Flachdach und moderner Einrichtung und in der besten Jugendstiltradition, die zu dieser Zeit ganz Europa beeinflusste. Auf dem Platz des 3. Mai stand eine riesige Jugendstilstatue, eine nackte Frauengestalt mit Flügeln, die nach den Wolken griff. Es gab Straßenbahnen und Busse, Lastwagen und gelegentlich auch einen Personenwagen. Sie erinnerten uns daran, dass das 20. Jahrhundert angebrochen war. Aber daneben trotteten immer noch die kleinen Ponys mit ihren Wägelchen dahin und erinnerten an das alte Będzin, eine Kultur, die uns mit dem Wissen von tausend Jahren anlächelte.
Am besten jedoch erinnere ich mich anhand verblasster Fotos und weniger Gedächtnisfetzen an die Modrzejowska-Straße Nummer 77 und den Hof dort. Hier kam ich am 1. September 1926 zur Welt. Mein ganzes Leben – und das aller anderen Menschen – ist eine Abfolge von Veränderungen, von Vielleicht und Was-wäre-wenn. Eins davon betrifft meine Geburt. Ich hätte auch in London geboren werden können. Dann hätte ich keinen Holocaust erlebt, keine Zerstörung und keinen der Schrecken, die mich manchmal in den Nächten heimsuchen.
Mein Vater war Lejbus Pivnik, geboren im Jahr 1892. Polen gehörte zu dieser Zeit zu Russland, und unter Zar Alexander III. hatte es antijüdische Pogrome gegeben. Systematische, wenn auch sporadische Angriffe, die von der Regierung gedeckt und von den Kosaken und der Polizei ausgeführt wurden. Mein Großvater starb um die Jahrhundertwende an der Cholera, ich weiß nicht mehr genau wann. Daraufhin ging mein Vater nach Westen: nach England. Die genauen Gründe sind unklar, aber wahrscheinlich wollte er eine Zwangsrekrutierung in die Armee des Zaren umgehen, die später in Tannenberg und Galizien verheizt wurde.
Mein Vater hatte schon eine Schwester in London, wo eine für Juden bisher ungekannte Freiheit herrschte, jedenfalls so weit man sich zurückerinnern konnte. Es gab ein jüdisches „Ghetto“ in Whitechapel und Spitalfields. Journalisten wie S. Gelberg und Jack London haben das Leben in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts dort beschrieben: „Koschere Restaurants überall, koschere Metzgerläden dicht an dicht, gerade in den Vierteln, in denen es am wenigsten Hoffnung gab. Sieben davon allein an der Kreuzung Middlesex Street und Wentworth Street … ‚Weiber! Weiber! Leimische Beigel!‘, rufen die Frauen … und wenn die Schatten schon länger werden … beschwören sie immer noch bei ihrem Leben oder der Freundlichkeit des Shem Yisborach (Gottes) für Israel die Qualität ihrer Waren.“
Whitechapel war wohl nur deshalb das berühmteste jüdische Viertel von London geworden, weil Jack the Ripper dort im Jahr 1888 seine Verbrechen begangen hatte. Mein Vater lebte in dem wohlhabenderen und weniger bekannten Stamford Hill. Heute hat Stamford Hill die größte Chassidische Gemeinde in ganz Europa und wird oft die „Quadratmeile der Frömmigkeit“ genannt, weil hier so viele streng orthodoxe Juden auf dem Weg zu oder von ihren Synagogen zu sehen sind. Eine Schule dort hat sich letzthin geweigert, Shakespeares Werke zu behandeln – wegen seiner antisemitischen Ansichten.
Zur Zeit meines Vaters war es noch anders. Stamford Hill war kein Ghetto wie Whitechapel, und London war die größte kosmopolitischste Stadt der Welt. Er passte eigentlich nie so recht dorthin. „Die Straßenpflaster waren nicht koscher“, pflegte er zu sagen, und die ganze Familie wusste dann, was er meinte. So kam es wieder zu einem schicksalhaften Wechsel – einem Was-wäre-wenn –, als mein Vater einen Brief von seiner Mutter Ruchla-Lea erhielt. Ihr anderer Sohn, mein Onkel Moyshe, der Schneider von Szopienice (Schoppinitz) nahe Kattowitz war ihr keine Hilfe, und die alte Dame hatte Mühe, sich in Będzin noch selbst zu versorgen. Nun bat sie meinen Vater, nach Hause zu kommen.
Ich weiß nicht genau, wann das war. Wenn es nach dem Ersten Weltkrieg war, tobten in Russland bereits die Wirren der Revolution, und die Kinder von Będzin mussten nicht mehr für den Zaren beten. Wenn es vor dem Ersten Weltkrieg war, hatte sich die Bedrohung der Zwangsrekrutierung erledigt, denn Będzin war von August 1914 bis zum Waffenstillstand 1918 unter deutscher Besatzung.
Es gibt ein Foto meines Vaters, das irgendwann kurz nach seiner Rückkehr nach Polen beim Fotografen aufgenommen wurde. Er war ein gut aussehender Mann Anfang zwanzig, mit einem steifen, gestärkten Hemdkragen und auf Hochglanz polierten Schuhen. Er wirkt sehr ernst, wie es seinem Status in der Stadt zur Zeit meiner Geburt angemessen war, aber um seine Lippen spielt trotzdem ein leichtes Lächeln. Manchmal denke ich, er hat auch viel Humor