Der letzte Überlebende. Sam Pivnik

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Der letzte Überlebende - Sam Pivnik

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das weiß ich heute.

      Samstag, der 2. September, war Sabbat. Ein warmer, sonniger Tag. Normalerweise hätten wir uns auf den Weg zur Synagoge gemacht, gemeinsam mit Freunden und Nachbarn, um Gott zu danken. Aber an diesem Tag gingen wir nicht. Und es würde noch zwölf Jahre dauern, bis ich wieder einen Fuß in eine Synagoge setzen sollte. Es gab auch keine Feste mehr. Alle Rituale des jüdischen Jahreskreises wurden abgeschafft oder unmöglich gemacht. Nathans Bar-Mizwa zwei Jahre zuvor war eine große Zeremonie gewesen. Meine wurde ein paar Wochen nach dem Einmarsch der Deutschen bei uns in der Küche begangen, ohne die Thora aus der Synagoge, ohne Rabbi oder Kaffee und Kuchen. An diesem Tag im September wurde ich sozusagen zum Mann. Am Tag zuvor hatte ich noch Fußball gespielt und Soldaten zugewinkt. Jetzt sah ich die Flüchtlinge, die vorbeizogen, traurige, obdachlose, gesichtslose Menschen, wie sie die nächsten sechs Jahre die Straßen Europas verstopfen würden. Es war wie der Exodus, von dem der Rabbi und mein Vater erzählt hatten, aber unter den Flüchtlingen waren auch Nicht-Juden, die gemeinsam mit den Juden ostwärts hasteten und versuchten, dem Vormarsch der Wehrmacht zu entkommen. Jede nur vorstellbare Art von Transportmitteln wurde benutzt. Die Wohlhabenden hatten Autos, die Geschäftsleute ihre Lastwagen. Andere schlugen auf ihre Pferde vor den Karren ein, Karren, auf denen sich ein ganzes Leben befand. Koffer, Taschen, Bettzeug und Matratzen, hier und da ein Vogelkäfig, ein Waschzuber. Noch herrschte keine Panik. Die Menschheit neigt ja zum Optimismus. Irgendetwas würde geschehen. Gott würde Hilfe senden. Aber sie blieben nicht lange in Będzin, die Stadt befand sich zu nahe an der Front, und es konnte gut sein, dass sie morgen schon mitten im Kampfgebiet lag.

      Und dann die Gerüchte. Die nächsten sechs Jahre drehte sich mein Leben nur um Gerüchte. Die Deutschen bombardierten jede Stadt auf ihrem Weg und mähten die noch lebenden Zivilisten mit Maschinengewehren nieder. Ihre Stukas bombardierten die Flüchtlingsströme, die sich nach Osten bewegten. Aber keine Sorge, die polnische Armee drängte sie über die Grenze zurück. Alles würde gut.

      Die Wahrheit, die an jenem 2. September niemand in Będzin kannte, sah so aus: General Reichenaus 10. Armee und General Lists 14. Armee bewegten sich auf Krakau zu und schlugen jeden Widerstand nieder. General von Rundstedts Truppen hatten bereits die Warthe überquert. Mit erheblichen Verlusten – vielleicht kam deshalb das Gerücht auf, die polnische Armee würde die Deutschen zurückdrängen –, aber unaufhörlich. Immer weiter Richtung Osten. Der Angriff vollzog sich so schnell, dass unsere Armee sich gar nicht versammeln konnte, und die Reservisten um Tarnów (Tarnow) konnten nicht schnell genug zum Einsatz gebracht werden.

      Ich erinnere mich nicht, was ich an jenem Samstag oder am darauffolgenden Sonntag tat. Vermutlich spielte ich mit meinen Freunden und wir tauschten die Gerüchte aus, die wir an den Straßenecken und zu Hause gehört hatten. Nur bei uns zu Hause wurde kein Wort über den Krieg gesprochen. Einige Erwachsene klammerten sich an den Strohhalm der Unterstützung durch die Alliierten. Die Briten und Franzosen, so erklärte das polnische Radio, hatten Deutschland ein Ultimatum gestellt, sich entweder sofort aus Polen zurückzuziehen oder auf einen Zwei-Fronten-Krieg einzulassen. Das klang doch gut, sagten die Erwachsenen, nicht einmal ein Verrückter wie Adolf Hitler würde einen solchen Krieg riskieren.

      Ich erinnere mich nicht, dass detaillierter über Politik gesprochen wurde, jedenfalls sprach mein Vater vor uns Kindern nicht darüber. Vielleicht wusste Hendla mehr, aber sie war ein Mädchen und verstand wohl auch nicht wirklich, was vor sich ging. So dachte ich zumindest.

      Bis heute können Historiker nicht sagen, wie verrückt Adolf Hitler eigentlich war. Einige sprechen von seinem Narzissmus, seiner Arroganz, seinem obsessiven Rassismus und seinem zunehmenden Größenwahn. Der Zweite Weltkrieg, so sagen sie, war Hitlers Krieg, man muss sich nur diesen komischen kleinen bayerischen Gefreiten ansehen (der eigentlich aus Österreich kam), um die entsetzlichen Ereignisse der Vierzigerjahre zu erklären. Andere, zumeist aus einer anderen Generation, betrachten die äußeren Einflüsse genauer, sprechen von den Auswirkungen des verlorenen Ersten Weltkriegs, von der Weltwirtschaftskrise, die Deutschland besonders hart traf. Und sie sprechen von der Ungerechtigkeit des Versailler Friedensvertrags, der eine einst stolze Nation demütigte und ausplünderte.

       Będzin und seine Umgebung.

      Ich hatte keine Ahnung, was „Großdeutschland“ sein sollte, ich verstand auch nicht, was Hitlers Idee vom „Lebensraum“ für sein Volk bedeutete. Er war ein Vertreter einer Geopolitik, die darauf hinauslief, dass alle Regionen, in denen Deutsche lebten, auch Teil des Deutschen Reiches sein sollten. Und jetzt muss man sich nur eine Karte meines Landes ansehen, wie es sich darstellte, als ich dreizehn Jahre alt war. Der Versailler Vertrag von 1919 hatte den Polnischen Korridor geschaffen, einen Streifen, der zum Danziger Freihafen an der Ostsee führte und unser einziger Zugang zum Seehandel war. Hitler hatte zu Oberst Józef Beck, dem polnischen Außenminister, gesagt, Danzig sei deutsch, werde immer deutsch bleiben und früher oder später Teil des Deutschen Reichs sein. Östlich von Danzig lag Ostpreußen, Teil des Deutschen Reichs seit 1871. Hitler erklärte, es sei ein Unrecht, dass Ostpreußen durch eine fremde Macht vom Mutterland abgetrennt sei. Die Lösung des Problems? Ganz einfach: den Korridor schließen und Ostpreußen ins Reich integrieren. Würden die Polen dem widersprechen? Natürlich. Also musste man ihr Land besetzen. Und fertig.

      All das wusste ich nicht, und ich hatte auch keine Ahnung von dem Hass, den Hitler gegen das jüdische Volk hegte. Ich wusste nur, dass an diesem Sonntag und Montag die Flüchtlinge durch unsere Stadt zogen, mit Wagen, Hunden, Kindern – das reinste Chaos.

      Und natürlich fiel die Schule aus. Ob ich jubelte und herumhüpfte? Ich weiß es nicht mehr. Wenn ich darüber nachgedacht hätte, wäre ich wohl zu dem Schluss gekommen, dass die erste Konstante in meinem Leben bereits weggebrochen war. Die Schule ist eine Säule, eine sichere Institution der Kindheit, mindestens so übermächtig wie Familie und Glaube. Sie ist nicht nur ein Ort, an dem wir uns Wissen aneignen, sie ist ein Ort, an dem wir den Umgang mit der Außenwelt lernen. Die Schule des Herrn Rapaport machte nicht wieder auf, solange ich in Będzin blieb. So endete meine Schulausbildung abrupt.

      Am Montag, dem 4. September, waren sie da. Das verrückteste, aber hartnäckigste Gerücht hatte gelautet, die Briten und Franzosen würden ihre Armeen schicken, um uns zu retten. Niemand, schon gar nicht ein Kind von dreizehn Jahren, fragte nach, ob das denn möglich sei. Wie sollten sie hierherkommen, und dann auch noch so schnell? Tatsächlich hatte in Großbritannien Neville Chamberlain seine berühmte Verlautbarung am Sonntagvormittag um elf Uhr an sein Volk herausgegeben. Erst um fünf Uhr am Nachmittag folgten die Franzosen. Es würde nie britische oder französische Truppen in Polen geben, aber das konnten wir damals nicht wissen.

      Nördlich von uns war die Lodzer Armee mehrmals geschlagen worden. Reichenau hatte die Warthe erreicht, List marschierte auf Krakau zu. Bis Montag war er 80 Kilometer weit vorgedrungen. Aber in diesen Septembertagen waren Gerüchte, nicht Fakten die gängige Währung in Będzin. Die Briten und Franzosen waren auf dem Weg zu uns, hieß es. Wir waren begeistert. Die Leute lachten und plapperten vor sich hin. Frauen und Mädchen sammelten in diesem heißen, trockenen Sommer Blumen, um sie unseren Rettern zuzuwerfen und die mutigen Männer zu begrüßen. Wir warteten an der Hauptstraße, zitternd vor Aufregung, und lauschten kurz nach Mittag auf das Grollen schwerer Fahrzeuge, die sich von Westen her näherten. Jubel wurde laut, die Leute weiter unten an der Straße mussten sie schon sehen können, die rot-weiß-blauen Flaggen.

      Das Erste, was ich sah, waren dunkle Motorräder mit Beiwagen. Die Fahrer trugen tief heruntergezogene Stahlhelme und graugrüne Uniformen, die Waffen hatten sie um die Schulter gehängt. Sie waren schmutzig nach all den Stunden auf der Straße, der Staub des Sommers lag wie eine dichte Schicht auf ihren Handschuhen und Schutzbrillen. Sie bewegten sich langsam und schauten sich wachsam um. Harte Männer mit harten Gesichtern. Hinter ihnen folgten grau lackierte Lastwagen mit krachenden Getrieben und ratternden Ladeflächen. Alle diese Wagen waren bis an den Rand mit Soldaten besetzt,

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