Der letzte Überlebende. Sam Pivnik

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Der letzte Überlebende - Sam Pivnik

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Krieges.

      Die Stimmung änderte sich. Die Blumen ließen ihre Köpfe hängen, der Jubel verstummte. Auch die Gespräche hörten auf, das Lächeln gefror auf furchtsamen Gesichtern. Ich stand bei ein paar jüdischen Flüchtlingen aus Düsseldorf, die zwei Jahre zuvor in unser Haus eingezogen waren. Sie waren vor der Verfolgung durch die Nazis geflohen, als Hitlers rassistisches Netz sich immer dichter um die Menschen zog. Ich erinnere mich nicht an die Namen, aber die Mutter sprach schließlich aus, was wir alle dachten: „Das sind keine Franzosen oder Briten. Das sind deutsche Soldaten.“

      Ihre Worte waren wie ein Startsignal für die Menge. Die Leute verteilten sich, nahmen die Blumen mit oder warfen sie verächtlich auf die Straße. Die meisten wollten einfach nur schnell nach Hause. Nach Hause, die Türen verriegeln, die Fenster zuhängen. Und überlegen, was zu tun war. Ich ging nicht nach Hause. Die Wehrmacht faszinierte mich ebenso wie die Bomber zwei Tage zuvor. Ich verstand es damals nicht und kann es bis heute nicht richtig erklären. In der riesigen Menge von Soldaten, die in unsere Stadt einzogen, befand sich ein offener Lastwagen. Die Fahrer waren Deutsche, aber auf der Ladefläche waren Männer in polnischen Uniformen. Sie lachten und machten Witze, als wäre es ganz normal und natürlich, in einem Fahrzeug des Feindes mitzufahren. Ich hätte sie mir genauer ansehen sollen, um festzustellen, ob sie Waffen trugen. Wenn nicht, waren es vielleicht Kriegsgefangene. Wenn ja, warum waren sie dann so guter Stimmung? Wenn es Deutsche waren, weshalb trugen sie polnische Uniformen? Tagelang wurde darüber geredet, aber wir fanden keine Antwort. Vermutlich handelte es sich um sogenannte Volksdeutsche, also Polen deutscher Abstammung, die die Invasoren mit offenen Armen begrüßten. Einer von ihnen war ein kleiner, dicker Mann, den ich kannte, der Kapellmeister unseres Ortsregiments. Er trug die Schulterklappen eines Hauptmanns und hatte in unserer Schule gelegentlich Musikunterricht gegeben. Er nahm nie an Kämpfen teil und verließ Będzin auch nicht, soweit ich mich erinnere. Aber ich weiß bis heute nicht, was eigentlich mit ihm geschah, und so geht es mir mit vielen Begebenheiten aus den nächsten sechs Jahren.

      Als ich irgendwann doch nach Hause kam, herrschte dort eine Art Belagerungszustand. Wir waren jetzt in der gleichen misslichen Lage wie die Flüchtlinge, die wir in der Stadt gesehen hatten. Jetzt war unser Zuhause von den Deutschen umzingelt. Aber wenn wir wegliefen, selbst wenn wir all unsere Habe auf einen Wagen packten – Vaters Nähmaschine, Nathans tolles Fahrrad, meine Schlittschuhe, all unseren Besitz –, wohin sollten wir uns wenden? An diesem Montagabend blieben wir im Haus, wagten uns höchstens einmal auf den Hof, aber nicht auf die Straße. Überall fuhren Lastwagen durch die Dunkelheit, Megafon-Stimmen bellten verzerrte Befehle, immer wieder kam die Aufforderung, dass alle in ihren Häusern bleiben sollten – sonst würde geschossen. Wir taten, wie man uns befahl, hörten das Grollen der Lastwagen und gelegentlich auch Gewehr- oder Pistolenschüsse.

      Ich kann nach so langer Zeit und allem, was noch geschah, gar nicht mehr in Worte fassen, wie ich mich fühlte. Natürlich hatte ich Angst, wer hätte keine gehabt? Ich war wie alle in meiner Umgebung als treuer Pole erzogen worden, wir hatten in der Schule jeden Morgen für den Präsidenten gebetet, ebenso wie mein Großvater wohl für den russischen Zaren gebetet hatte. Damals war mir nicht klar, dass die polnische Regierung nicht viel für die Juden übrig hatte. Zwei Jahre vor dem Einmarsch der Deutschen hatte es in einigen polnischen Städten antisemitische Ausschreitungen gegeben, die fast schon an Pogrome grenzten. Die Erwachsenen hatten wohl Déja-vu-Erlebnisse. Immer wieder waren Juden Opfer von Verfolgung gewesen. Wir waren aus unzähligen europäischen Ländern ausgewiesen worden, mussten weiterziehen, uns eine neue Heimat suchen. „Ihr habt kein Recht, unter uns zu leben.“

      Wenn ich bisher so etwas wie Antisemitismus wahrgenommen hatte, dann höchstens in den Tagen nach Ostern. Ansonsten spielte ich das ganze Jahr mit Nicht-Juden wie mit Juden, darunter Jurek und die Gutsek-Brüder. Aber um Ostern herum gab es immer Schlägereien, weil uns dann die Christen beschuldigten, wir hätten Jesus Christus ermordet. Andererseits gab es auch sonst gelegentlich Schlägereien: wegen eines Fouls beim Fußball, einer gehässigen Bemerkung … Wenn der Krieg nicht gekommen wäre, hätten wir uns vermutlich in den nächsten Jahren irgendwann um die Mädchen geprügelt. Am nächsten Tag war alles vorbei und vergessen. Man trug die Platzwunden und Blutergüsse mit Stolz und vergaß das Ganze. Die einzigen Schwierigkeiten, die ich mitbekam – Nathan erzählte manchmal davon –, gab es, wenn die Nicht-Juden ein Fußballspiel verloren. Die Streitereien wurden allerdings immer von Auswärtigen vom Zaun gebrochen. Bis zu diesem September hatte es in Będzin nie ein Pogrom gegeben.

      Würde es so bleiben? Und wenn nicht, konnten wir Juden einfach weiterziehen, wie wir es immer getan hatten, und eine neue Zuflucht finden? Wo würden wir schließlich einen neuen Garten Eden finden?

      An die nächsten Tage erinnere ich mich nur noch wie durch einen Nebelschleier. Im übrigen Polen, so erfuhr ich später, wurde die Armee noch weiter zurückgedrängt, sodass wir isoliert und ohne Verteidigung waren. Am 6. September nahm Lists 14. Armee Krakau ein, die polnische Regierung verließ Warschau. Die polnische Armee war erschöpft, hoffnungslos in der Unterzahl und fast überall besiegt. Sie wurde auf eine Linie entlang den Flüssen Weichsel, Narew und San zurückbeordert. Einen Tag später musste sie sich sogar bis zum Fluss Bug zurückziehen.

      Inzwischen galt unsere erste Sorge den Lebensmitteln. Es gab wohl irgendwie die Möglichkeit, Lebensmittel einzukaufen, aber die Ausgangssperre war nach wie vor in Kraft, und ab einer bestimmten Uhrzeit bewegten sich nur Deutsche auf den Straßen. Von neunzehn Uhr bis acht Uhr am nächsten Morgen mussten wir im Haus bleiben. In Będzin hatte es keine Kämpfe gegeben, es gab keine Ruinen und keine Mauerreste wie in so vielen anderen europäischen Städten in diesen Monaten. Aber überall waren Soldaten, die meisten in den graugrünen Wehrmachtsuniformen. Einige trugen Ketten um den Hals, das Zeichen der Militärpolizei. An Samstag nach dem Einmarsch – immer noch sprach niemand davon, zur Synagoge zu gehen – veränderten sich die Uniformen. Jetzt sah man häufiger die blaugrünen Jacken der Zivilpolizei, und bald kamen auch Männer in hellbraunen Jacken mit rot-schwarz-weißen Armbinden mit dem Hakenkreuz dazu: Parteibürokraten der Nazis, die ins Rathaus und andere offizielle Gebäude einzogen und ihre Aktenschränke, Schreibmaschinen und Papiere mitbrachten. Eine der vielen Eigenheiten, die ich in den folgenden Jahren über die Nazis erfahren sollte, war ihre Detailversessenheit. Alles wurde mit dreifachem Durchschlag geschrieben, weitergeleitet und abgeheftet. Sie waren stolz auf ihre Leistungen. Aber was mich am meisten alarmierte, war die Tatsache, dass auch die Stadtpolizei von Będzin wieder zu sehen war. Entweder waren viele Volksdeutsche unter den Beamten, oder sie machten mit, um zu überleben.

      Fast unmittelbar nach den ersten Tagen begannen auch die Razzien. Männer wurden von den Soldaten „eingesammelt“, vor allem die orthodoxen Juden mit ihrer schwarzen Kleidung, den Schläfenlocken und langen Bärten. Sie wurden auf Plätzen und an Straßenecken zusammengetrieben und aus der Stadt gebracht, hinaus zu den Fabriken, die bei den Luftangriffen der vergangenen Woche zerbombt worden waren. Dort bekamen sie den Befehl, Blindgänger zu suchen, die noch einmal eingesetzt werden konnten. Die Männer waren für diese gefährliche Arbeit nicht ausgebildet und hatten auch keine Schutzausrüstung. Im Grunde waren sie nur menschliche Minensuchgeräte – sie waren ja entbehrlich. Wenn ein Blindgänger hochging und ein paar Juden in Stücke zerrissen oder schwer verletzt wurden, kein Problem.

      Sehr genau erinnere ich mich an Freitag, den 8. September. An diesem Tag kamen die Einsatztruppen, wie man sie nannte. Wir kannten den Namen nicht und hatten auch keine Vorstellung, mit welchem Auftrag sie kamen. Die meisten sahen aus wie Polizisten in einer Art Kampfanzug. Andere trugen Wehrmachtsuniformen, allerdings mit schwarzen Schulterklappen und Blitzen an den Kragenspiegeln. Auf dem Ärmel trugen sie einen Adler. Sie kamen mit der üblichen bunten Mischung aus Motorrädern, Lastwagen und Geländewagen. Es handelte sich um Exekutionskommandos, vom Oberkommando der Nazis dazu ausgesucht, mein Volk systematisch anzugreifen. Heute weiß ich, dass die Einheit, mit der wir es zu tun bekamen, von SS-Obergruppenführer Udo von Woyrsch befehligt wurde, einem schlesischen Adligen, der schon seit Jahren Mitglied der NSDAP war. Seine Einsatzgruppe umfasste etwa zweitausend Männer in einer besonderen Zusammensetzung, die typisch für diese Einheiten war. Sie waren alle

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